Sonntag, 22. Juli 2012

Karl-Heinz Ott: Wintzenried (2011)


Denkmalsturz als Denkübung, zur Anregung und zur Unterhaltung

Zu Beginn ein dialektisches Pingpong zu Jean-Jacques Rousseau: Rousseau gilt nebst Voltaire als der berühmteste französische Aufklärer des 18. Jahrhunderts – Rousseau arbeitete gegen die Aufklärung und verachtete den Fortschritt. Rousseau gilt als spiritus rector der Französischen Revolution – Rousseau war ein egozentrischer Hypochonder mit einer ausgewachsenen Paranoia. Rousseau verkehrte in den höchsten Kreisen von Paris – Rousseau machte sich bei ihren wichtigsten Vertretern unmöglich, war schnell beleidigt und eifersüchtig. Rousseau war ein großer Geist, ein Genie mit vielen Talenten – Rousseau war ein Aufschneider und größenwahnsinniger Dilettant. Rousseau liebte das weibliche Geschlecht – Rousseau liebte sich am liebsten selber und hielt sich eine ungebildete Bedienstete als Lebensgefährtin auf Distanz.



Ahnt der Leser es schon? Die jeweils an zweiter Stelle genannten Thesen sind dem hier vorgestellten Roman von Karl-Heinz Ott entnommen. Nein, es ist alles andere als Heldenverehrung, was der deutsche Rousseauforscher (*1957) in seinem Wintzenried über den berühmten Franzosen verfasst hat. Pünktlich zur Feier des 300sten Geburtstages des Urvaters aller Hippies und anderer Aussteigergruppen stürzt er ein Denkmal vom hohen Sockel, dass es einen unüberhörbaren Knall macht. Dabei verlässt er sich ganz auf erzählerische Ironie, weder wertet er noch erhebt er jemals ernsthaft den kritischen Zeigefinger, er schildert bloß aus amüsierter und stiller Distanz. Und lässt uns damit auf eine ganz unerwartet unterhaltsame Weise am Leben eines sehr sonderbaren und widersprüchlichen Wesen teilhaben.

Aber ja, die Legenden, sie zerschellen mit lautem Krach. Die berühmteste ist seine gegenaufklärerische Schrift für die Universität von Dijon im Jahre 1749. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Rousseau noch ein unbeschriebenes Blatt, nicht nur bei Ott; er hält sich mit dem Kopieren von Noten über Wasser, seine – wie er glaubt – geniale revolutionierte Notenschrift ist von zuständigen Autoritäten wie Rameau verlacht und als komplett untauglich versenkt worden. Zwischendurch konnte Rousseau eine Weile in französischen Diensten als Sekretär des Botschafters in Venedig fungieren, was sein Selbstbewusstsein, oder auch seinen Größenwahn, nährte. Und er kam in Kontakt mit Diderot, der ihn als Autor für die geplante Enzyklopädie anheuert, mit Beiträgen zum Thema Musik und – aus heutiger Sicht viel passender – zum Begriff der ›Authentizität‹.

Ähnlich wie von Martin Luthers Blitz-Erlebnis wird in den einschlägigen Philosophiegeschichten gerne von Rousseaus Epiphanie unter einem Baum irgendwo zwischen Paris und Vincennes erzählt, wo er über längere Zeit regelmäßig seinen inhaftierten Freund Diderot im Gefängnis besuchte. Wilhelm Weischedel zitierte in seinem Klassiker Philosophische Hintertreppe aus Rousseaus autobiographischer Schrift Bekenntnisse (1782 postum veröffentlicht): »Wenn jemals etwas einer plötzlichen Inspiration glich, so war es die Bewegung, die mich ergriff. […] Alles, was ich von der Fülle großer Wahrheiten, die mich unter diesem Baume erleuchteten, habe aufbehalten und in meinen Schriften darstellen können, ist nur ein schwacher Nachklang dessen, was mich damals bewegte.«
Pathos, Pathos, Pathos. Tatatataaaa.
Anders in Wintzenried: dort muss sich Rousseau erst lange von seinem umtriebigen Freund Diderot bearbeiten und auf den Gedanken bringen lassen, dass eine weitere Lobeshymne auf die Wissenschaften und Künste den Gipfel der Redundanz darstelle und in der Menge der anderen Schriften unterginge. Wer sich wie Rousseau rasch einen Namen machen wolle, müsse zum Gegenangriff blasen und alle schockieren. Rousseau glaubt kaum seinen Ohren zu trauen, was eine der Speerspitzen der radikalen Aufklärung ihm da einflüstert. Er wehrt zunächst ab, Diderot solle diese offensichtlich unwahre Meinung unter eigenem Namen veröffentlichen. Doch dann wird es amüsant, wenn Ott vorführt, wie in Rousseaus Innerem die Zweifel und Widerstände der Überzeugung weichen, dass seine Stunde geschlagen hat:

»Diderot hat recht, obwohl er unrecht hat. Man muss nur anfangen, an das zu glauben, was er sagt. Diderot weiß gar nicht, wie recht er hat. Im Grunde, so hat Jean-Jacques allmählich das Gefühl, hat Diderot mich auf Gedanken gebracht, die ich eigentlich immer schon hatte.« (S. 87)

Ott überlässt es augenzwinkernd uns Lesern, ob diese Kehrtwende bloß der Lust auf den ersehnten Ruhm zu verdanken ist oder ob sie tatsächlich das Resultat eines dialektischen Prozesses darstellt, jedenfalls schmunzelt man über dieses spöttische Spiel mit der Historie oder eben Legende des von der jähen Erkenntnis heimgesuchten Genies. Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Innert weniger Zeilen wird aus dem verunsicherten Möchtegernaufklärer auf dem Nachhauseweg der fortschrittsfeindliche Kulturkritiker, als der er seither gilt, eine robespierrsche Frühgeburt von Gottes Gnaden, der mit heiligem Furor und aus vollem Herzen den Prediger in der Wüste gibt. Garantiert ironiefrei und moralinsauer. Wenn jemals der Ausdruck Fähnchen im Wind angebracht war, dann hier. Bei soviel Bösartigkeit fragt man sich schon, aus welchen Quellen Ott da schöpft, aber das Ganze ist auch regt auch auf wohltuende Weise dazu an, der verbreiteten Tendenz (und Sehnsucht) nach den vermeintlich großen Köpfen mit ihren sagenhaften angeborenen erhabenen Überzeugungen entgegenzudenken und die Helden unsrer Zivilsationsgeschichte ein klein wenig opportunistischer und damit menschlicher zu machen. Und menschlich wird Rousseau hier gemacht, mehr als man sich zuweilen zu denken getraut, über zweihundert Seiten und auf zum Teil sehr vergnügliche Weise.



A star is born, sozusagen über Nacht, und aus welchen Beweggründen auch immer. So viel ist belegte Historie. Freilich – und darin liegt der Reiz von Otts Spielerei –  findet man vor dem Hintergrund seiner spezifischen Version ziemlich nachvollziehbar, weshalb der geläuterte Bekehrte fortan im armenischen Kaftan und mit orientalischer Pelzmütze auftrat. Könnte es sein, so wird suggeriert, dass der Wendehals Rousseau mit diesem etwas kindlichen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, mit dem er sich von der aufgeklärten Pariser Garde abgrenzen wollte, äußerlich zu bekräftigen versuchte, was inhaltlich nicht ganz nachvollziehbar war? Ein Ablenkungsmanöver? Damit würde Ott ihn auf das Niveau eines geltungsbedürftigen Durchschnittsbürgers von heute stellen, der einmal järrlich an der Street Parade seine Bauchnabelpiercings vor aller Welt zur Schau trägt: ›Sehr her! Jetzt seht doch verdammt nochmal her! Ich bin ganz anders als ihr! Sehr doch her!‹
So viel Bereitschaft, einen der wichtigsten abendländischen Philosophen der Lächerlichkeit preiszugeben, war selten: Rousseau trägt in Otts Darstellung seine neuen Überzeugungen nur allzugerne vor sich her und gleicht damit mehr einem selbstverliebten pubertierenden Mitglied einer Boygroup als einem der wichtigsten Denker der französischen Aufklärung:

»Vielleicht, denkt Jean-Jacques, wird man mich eines Tages mit Sokrates und Jesus vergleichen.« (S. 93)

Die Demontage beginnt ja bereits mit der Titelgebung: Wintzenried ist der Name eines eitlen jungen Frisörs, der Rousseau aus dem Bett und damit aus dem Herzen und Haus von seiner Maman gedrängt hat. Mme de Warens hatte ihn acht Jahre lang bei sich in Annecey wohnen lassen, der Mutterersatz mutierte zur Teilzeitgeliebten mit Besitzansprüchen, doch nach ein paar Jahren nahm der honeymoon ein brüskes Ende. Auftritt: der Frisörgeselle. Ob wahr oder nicht, trägt Ott hier dem Potenzial der Kontingenz Rechnung und raunt ahnungsvoll: Seht her, ohne diesen Kerl, ohne diesen Wintzenried, ohne diese scheinbare Marginalie der Weltgeschichte wäre Rousseau womöglich ein ewiger Witwentröster und Provinzmusiker geblieben, statt die Welt mit seinen Ideen zu bewegen und auf immer zu beeinflussen. Ohne Wintzenried keine französische Revolution, kein Robbespierre, vielleicht kein Werther, kein Pestalozzi, vielleicht ein anderer Kant als der, den wir kennen, vielleicht keine Romantik und kein Marx, keine Naturisten, vielleicht auch keine Nazis, und was machen die armen Hippies ohne Rousseau und seien Epigonen?
Ott  versteht es gut, Pointen zu platzieren. So zitiert er gerne besonders absurde Sätze aus Rousseaus Werk, z.B. aus Emile: »In Ländern, wo Kinder gewickelt werden, hinken die Leute und bekommen Buckel […]« Und was die Titelfigur betrifft, setzt er noch eins obendrauf: In demselben Erziehungsroman nimmt er späte Rache an dem verhassten Nebenbuhler, ein Beleg für das Ausmaß seines Traumas: Demnach dürften Männer …
»… alles andere als Perückenmacher und Frisöre werden. Nichts Widerlicheres und Widernatürlicheres für einen Mann, schreibt Jean-Jacques, als Perückenmacher zu sein.« (S. 136f.)

So vermischen sich Leben und Werk, Dichtung und Wahrheit: Dasselbe gilt für Wintzenried: Ott lässt über die gesamte Länge seines Romans kaum eine Gelegenheit aus, um Rousseau vorzuführen. Dennoch nimmt man seine Darstellung natürlich nicht für bare Münze, sondern liest sie als das, was sie ist: eine biographische Satire über einen sehr eigenwilligen, sonderbaren, wohl auch bemitleidenswerten Mann, der wichtige Bücher unserer Kulturgeschichte verfasst hat, egal warum.



Quellenangabe:
Ott, Karlheinz: Wintzenried. Hoffmann & Campe, Hamburg 2011.
Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe. dtv, München 2005. S. 162.




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