Dienstag, 17. Juli 2012

Terry Eagleton: Warum Marx recht hat (2012)




oder auch: Warum man Eagleton lesen sollte.

»Es sieht ganz so aus, als würde der Kapitalismus, wenn wir jetzt nicht handeln, unser Tod sein.« (S. 270)

Ein knalliges Zitat, auch wenn es für sich genommen etwas aporetisch und feierlich wirken mag. Es bringt jedenfalls Eagletons Absicht auf den Punkt. Und ich bin immer dankbar, wenn jemand auch mal klare Statements von sich gibt, sofern sie mit genug Sachkenntnis und sorgfältiger Argumentation untermauert sind und hergeleitet werden. Denn natürlich bildet solch ein Satz eher die Ausnahme. Die Lektüre ist nicht so mitreißend und geht nicht so leicht von der Hand – was zu erwarten war. Das mag abgesehen vom theoretischen Gegenstand an der Ernüchterung liegen, die einem beim Lesen widerfährt und am Aufbau, der für einen Neuling zu wenig Systematik bietet.
Eagletons Ansatz ist es, in den zehn Kapiteln des Buches die zehn gängigsten Bereiche von Urteilen und Vorurteilen, die gegen den Marxismus ins Feld geführt wurden und werden, mit seinem eigenen Verständnis und seiner Lektüre von Marx und dessen Apologeten zu widerlegen. Natürlich muss er das als Marxist auch tun, es geht ihm ja darum, seinen ›spiritus rector‹ wieder salonfähig zu machen und seine Lesart so zu verpacken, dass man das Buch nicht weglegt. Aber mich vermögen seine Erläuterungen – sofern ich die Materie zu überschauen vermag – auch zu überzeugen. Sie bekräftigen, wie falsch die herkömmliche Auffassung so vieler Stimmbürger ist, die mit dem Verweis auf den Gulag, das Tian’anmen-Massaker oder den vermeintlichen Siegeszug des Kapitalismus (Fall der Mauer) den Marxismus und Sozialismus als obsolet abtut. Man macht es sich sehr leicht damit, zu leicht, muss ich nach der Lektüre sagen.

Wenn wir den Marxismus nicht ernst nehmen, weil in den Ländern des real existierenden Sozialismus die Menschenrechte mit Füßen getreten werden (oder wurden, z.B. in der UdSSR oder der DDR) oder die Wirtschaft nicht auf die Beine kommt (resp. kam), verwechseln wir wie so häufig Esel und Sack. Die gesunde volkswirtschaftliche Basis, auf der ein marxistischer Staat funktionieren könnte, war weder in dem russischen Riesenreich 1919 noch in dem zerstörten postfaschistischen Ostdeutschland 1945 gegeben, sagt Eagleton. Und Stalins repressivem System sagten seine Gegner, Marxisten wie Trotzki, schon in den Dreißigerjahren den Untergang voraus. Wenn wir heute mit den Fingern auf die stalinistischen Schauprozesse zeigen – müssen wir uns dann angesichts Guantanamo etc. nicht umgekehrt fragen, wie solche Institutionen mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten zu vereinbaren ist? Oder gilt hier zweierlei Maß?

Auf den Vorwurf, der Marxismus sei ein Anachronismus, er passe nicht mehr in die veränderte Gegenwart, erwidert Eagleton, die Verhältnisse seien die gleichen geblieben, nur seien heute mehr Menschen betroffen von den Auswirkungen des Kapitalismus denn je. Die Welt ist flacher und kleiner geworden. Er verweist auf das Wohlstandsgefälle, das sich seit Marx weltweit drastisch verschärft hat. Bereits vor zehn Jahren lebten weltweit 2.76 Milliarden Menschen von weniger als zwei Dollar am Tag. In Metropolen wie Lagos, Dhaka, Guangdong oder Shanghai herrschen heute Verhältnisse, wie sie Marx und Engels in den 1840ern in Manchester nicht schlimmer vorfanden. Dieses Elend, so schlimm es sein mag, ist für Marx notwendig, es ist die conditio sine qua non für einen Umsturz in Form der Übernahme der Produktionsverhältnisse durch die emporstrebende Klasse. Marx war der Ansicht: Es braucht eine materielle Basis für einen funktionierenden Sozialismus, der Weg zur Gerechtigkeit führt durch ein tiefes Tal der Ungerechtigkeit. Erst wenn der Kapitalismus ganze Arbeit geleistet hat und durch sein ausbeuterisches Wesen Reichtum akkumuliert hat, ist laut Marx der Zeitpunkt gekommen, wo der Klassenkampf einsetzen kann und die Klassen aufgehoben werden können. Eagleton ist kritisch genug, um auf die Konsequenzen dieser Paradoxie hinzuweisen. Ohne Blut, Schweiß und Tränen der Avantgarde keine Zukunft in Freiheit für die Kinder und Kindeskinder, ein martialisches Programm. Fast im gleichen Atemzug vermag Eagleton Marx auf solch sozialromantische Art und Weise auf den Punkt zu bringen, dass man direkt sein Parteibuch beantragen möchte:
»Die kapitalistische Gesellschaft erzeugt enormen Reichtum, aber zwangsläufig auf eine Weise, sie ihn für die Mehrheit der Bürger unerreichbar macht. Aber er kann jederzeit in ihre Reichweite gebracht werden, indem man ihn von den habgierigen, individualistischen Formen befreit, die ihn hervorgebracht haben, ihn der Gemeinschaft insgesamt zugänglich macht und dazu verwendet, lästige Arbeit auf ein Minimum zu beschränken. So ist der Reichtum in der Lage, die Menschen aus den fesseln ökonomischer Zwänge zu befreien und ihnen die Freiheit zu schenken, ihr kreatives Potenzial verwirklichen. Das ist Marx’ Vision vom Kommunismus.« (S. 78)

Auch Marx’ deterministische Geschichtsauffassung hinterfragt Eagleton scheinbar kritisch. Wieso konnte er glauben, dass auf einen Prozess der Steigerung der Produktivkräfte an einem gewissen Punkt automatisch der Umsturz folge und der Sieg der Arbeiterklasse »unvermeidlich« sei, wie es im Kommunistischen Manifest steht? Im klassischen China habe es beispielsweise an einer Klasse gefehlt, die für eine Übernahme bereit und geeignet war. Vorausgesetzt, dass es die jemals gibt und nicht gerade darin ein idealistischer Schwachpunkt des marxistischen Menschenbildes liegt. Andere mögliche Hindernisse und Möglichkeiten konnte Marx nicht vorhersehen, z.B. die Sozialdemokratie als ein demokratisches Bollwerk gegen die Revolution oder der nicht zu unterschätzende Einfluss, den die herrschende Klasse durch Boulevardpresse und Privatfernsehen einsetzen kann, um sich das Einverständnis der Bürger zu sichern. Ergo: Entwicklungstendenzen in der Geschichte mögen zwar wirksam sein, doch im Zusammenspiel mit Gegenentwicklungen ist der Ausgang ungewiss.

Im zehnten und letzten Kapitel geht es um die Frage, was Marx zu den brennenden Themen der Gegenwart wie Feminismus, Umweltschutz, Globalisierung und Friedensbewegung beizutragen hat. Hier staunt man nicht schlecht, dass ein »altmodischer viktorianischer Patriarch« wie Marx zwischen den beiden Narrativen der sexuellen und materiellen Produktion Parallelen zu erkennen schien: beide seien »Schauplätze von uralten Kämpfen und Ungerechtigkeiten, so dass die Opfer der einen wie der anderen Geschichte ein gemeinsames Interesse an politischer Emanzipation haben.« (S. 245)

Fazit: Das Buch bietet eine inspirierende Einführung in Marx’ Werk und stellt es in einen konkreten Zusammenhang mit unserer politischen Gegenwart. Nebenbei bietet es kulturgeschichtlich interessante Details wie z.B. die Tatsache, dass viele Ideen und Schlagworte, die dem Marxismus zugesprochen werden, älteren Ursprungs sind: Revolution, Klassenkampf, Sozialismus, Kommunismus, Proletariat, Entfremdung. Sie wurden von Leuten wie Shakespeare, Milton, Voltaire und Rousseau u.v.a. vorgedacht, aber es war Marx, der sie in seinem Werk vereinte und ihnen seinen Stempel aufdrückte. Es ist ein Buch, das ich immer wieder in die Hand nehmen werde, um einzelne Stellen nachzulesen. Und es regt dazu an, Marx endlich mal im O-Ton zu lesen.


Quellenangaben:
Eagleton, Terry: Warum Marx recht hat. Übersetzt von Heiner Kober.
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012.

1 Kommentar:

  1. Danke für diese Rezension. So komme ich endlich einmal zum Kommentieren. Kurz zur Vorbemerkung: (Der Kahnemann ist toll.) Ich denke, es gibt zwei Gründe, weshalb man oder ich keine Grundlagenliteratur mehr liest oder lese: Man braucht dafür die Musse eines Studiums, wo man tagelang einen trockenen Text mit Leuchtstift anstreichen kann, auf dass dann im Seminar ungefähr klar werden könnte, was da drin stand. Entlang dieser Linien baut man sich ein Gedankengerüst: Ich kann einige Gedankengänge von Marx rekonstruieren und den Rest nachschlagen. Wenn ich was genauer wissen will, dann lese ich Abschnitte oder Kapitel - nicht aber ganze Werke.
    Der zweite Grund ist, dass Bücher zu lang sind. Ich habe zu Kahnemann einige Rezensionen gelesen und habe den Eindruck, seine Schlüsselgedanken verstanden zu haben (http://philippe-wampfler.com/2011/10/17/warum-wir-uns-uberschatzen-und-was-wir-dagegen-tun-konnen/ ). Meine etwas pointierte Meinung: Es gibt heute kaum Gedankengänge, die nicht in einem Blogpost abgehandelt werden können. Und wenn Marx selber nicht gebloggt hat, so finde ich jemanden, der über Marx bloggt und mir sagt, was ich wissen muss.
    So, das war mein Kommentar zur Vorbemerkung; natürlich habe ich auch einfach zu wenig Zeit, um das Kapital zu lesen.
    Zu Marx selber interessiert mich die Frage, ob denn die Bedingungen seiner Kritik am Arbeitsprozess heute noch gelten. Oder ob er den richtigen Punkt trifft. Wir leben ja in einer Dienstleistungsgesellschaft - mit zwei Konsequenzen: Die Produktionsmittel gehören gewissermassen uns. Wir lassen unsere Turnschuhe und Smartphones irgendwo herstellen, und wenn es den Chinesen nicht mehr passt, dann finden wir irgendwo noch ärmere Teufel, die froh sind, wenn sie 18 Stunden für uns Giftstoffe einatmen dürfen. Dadurch, dass die Produktionsmittel quasi mobil und global geworden sind, verliert die Vorstellung der erfolgreichen Revolution in meinen Augen etwas an Evidenz.
    Der zweite Punkt ist der, dass wir uns selber disziplinieren. Wir arbeiten alle ungeheuer viel und machen einen guten Job. Niemand trinkt zu Mittag ein Glas Wein, alle treiben schön Sport und bleiben gesund. Wir sind unser eigener Chef, wir beuten uns selbst aus. Die Disziplinierung findet durch ganz andere Mechanismen statt, als Marx sie beschrieben hat, würde ich sagen.
    (Noch einmal: Danke sehr für den Blog - ich mag deine Sprache sehr.)

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