Sonntag, 26. August 2012

Die Unsichtbare (D 2012)



Regie: Christian Schwochow
Mit: Stine Fischer Christensen, Ulrich Noethen, Anna Maria Mühe, Ronald Zehrfeld, Ulrich Matthes, Dagmar Manzel, Gudrun Landgrebe

☞ Trailer

die Wahrhaftigkeitsbühne

Sie schläft ein. Auf der Bühne. Ausgerechnet als der Herr Regisseur aus dem richtigen Theaterleben zusieht. Er sucht an der Schauspielschule nach einer guten Besetzung für seine neue Produktion. Und Fine? Fine schläft ein. Wenn alle um sie herum hypern wie am ersten Schultag. Mit ihrem mausspitzen Gesicht, den traurigen Augen, der verschämten Körpersprache schläft sie ein. Auch ohne irgendetwas zu spielen, sieht sie bereits wie eine Verstoßene aus, aber kann man das Talent nennen?
Wider Erwarten darf sie dennoch mitmachen, noch dazu in der Hauptrolle der Camille (gemeint ist wohl Camille Claudel). Sie kann ihr Glück kaum fassen. Doch irgendetwas stimmt hier nicht. Das muss ein Irrtum sein.
Der Film deckt vier Monate ab, vom Casting bis zur Premiere, eine klassische Dramaturgie also, die sich schon in vielen sehenswerten Geschichten von fragilen Künstlerinnen am Rande des Nervenzusammenbruchs bewährt hat. Einige sehenswerte Beispiele sind Opening Night mit Gloria Swanson (John Cassavetes, USA 1977), Being Julia mit Annette Bening (István Szabó, GB 2004), Vier Minuten mit Hannah Herzsprung (Chris Kraus, D 2006), Black Swan mit Natalie Portman (Darran Aronofsky, USA 2010). Mit dem letztgenannten hat Die Unsichtbare noch mehr gemeinsam: das ambivalente Verhältnis zur alleinerziehenden Mutter, die emotionale Abhängigkeit von einem abgebrühten Regisseur, der ihre sexuelle Unerfahrenheit wittert und moniert, überhaupt ihr kokonhaftes Dasein. Zu viel unausgelebtes Leben mindert die Bühnenwirksamkeit – dieses Credo teilen sich die männlichen Bühnenzampanos der beiden Filme, die abgesehen davon ganz unterschiedlich funktionieren.
Fine starrt mal wieder ins Leere. In ihr schlummert ein Konflikt, der will raus, aber sie will nicht. Er macht ihre Erscheinung interessant, zunächst äußert er sich erstmal als lähmende Leere. Gänzlich kraftlos wirkt sie zuweilen. Rasch wird klar: wenn sie nicht bald aus dem Ei schlüpft, wird das nix mit der Hauptrolle. Will sie als Camille bestehen, muss sie sich erstmal mit sich selbst bekanntmachen und wenigstens einen Blick in ihre inneren Abgründe werfen. Ja, das mag abgedroschen klingen, ist es aber in diesem Fall nicht. Dazu ist nur schon Fines Ausdruck zu unkonventionell, um nicht neugierig zu machen. Stine Fischer Christensens Gesicht – ein Blatt Papier mit einem Haufen Fragezeichen. Dass man es immer wieder sieht und allmählich kennenlernt, in allen möglichen Nuancen, ist für mich eine der Stärken des Films.
Hinzu kommt ihre Verstocktheit. So will sie sich partout nicht mit einer der Grundregeln des deutschen Theaters anfreunden – da zieht man sich schon mal aus. Nicht mit ihr. »Dann müssen alle mal rausgehen«, fordert sie allen Ernstes. Der Film entbehrt nicht komischer Momente, die unaufdringlich inszeniert sind. Der Weg aus dem Schneckenloch führt über das Kostüm und den Text der Rolle. Doch selbst mit der platinblonden Perücke und dem dunkelblauen Schnürmantel wirken Sätze wie  »Sex ist wie Kuchenessen: ich esse und esse und kann nicht mehr genug davon bekommen« aus Fines Mund so auswendig gelernt wie sie sind. Glaubwürdig ist anders.


Alles andere als abgedroschen ist auch die private Situation. In Black Swan wurde noch eine dämonische Züge annehmende Tiger Mom bemüht, die fürchtet, ihr rosa Spielzeugkind an die böse Außenwelt zu verlieren – zudem neidet sie ihr ihre Jugend und die mögliche Karriere. In Die Unsichtbare ist es der kräftezehrende Alltag mit der geistig und körperlich behinderten Schwester Jule und einer überforderten Mutter, die Fines Ausbildung gar nicht zur Kenntnis nimmt. Die spastisch um sich schlagende Jule fordert beiden Frauen alles ab, ist sie erst mal ins Bett gebracht, bleiben kaum noch Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit übrig. Der Film ist zu intelligent, um diese schwierige Situation für irgendwelchen falschen Alltagsheroismus auszubeuten, er weist durch das Mittel der Wiederholung nur darauf hin, wo Fines Unsichtbarkeit herrühren mag. Sie hat aus der Not eine Tugend gemacht. Entsprechend muss sie dem ersten Mann, der ihr gefällt, ein Baum von Mann und Tunnelbauer, wortwörtlich nachlaufen und sich ihm gegenübersetzen, um wahrgenommen zu werden. Über sich reden mag sie allerdings nicht und das birgt bereits wieder jede Menge Potenzial für Missverständnisse.

Die Beziehung zum Regisseur ist sowieso spannungsgeladen, sie kommt im Drehbuch aber auch etwas zu kurz. »Warum hast Du mich für die Rolle ausgewählt?« – »Weil Du einen Schaden hast – warum sonst?« Er bringt sie fahrlässiger Weise dazu, sich an ihre Traumata zu erinnern, um sie für die Bühne interessanter zu machen. Wenn ich dem Film einen Vorwurf machen wollte, dann das absehbar eindimensionale und klischierte Bild von der Theaterwelt, das er entwirft: ein Haufen verrückter Spieler und Mitarbeiter, die alles mit sich machen lassen, um dabei zu sein, wenn der monarchisch agierende Regisseurkönig über sie bestimmt, charismatisch (Ulrich Noethen gibt sich redlich Mühe), schlechtgelaunt und cholerisch, das Rotweinglas stets zur Hand, die Zigarette sowieso. Aber ja, es mag auch Realsatire sein, immerhin dient Castorfs Berliner Volksbühne dem Film als Kulisse, und das will was heißen, da ist die Skala, was Verrücktheiten und Opferbereitschaft betrifft, nach oben hin offen wie sonst nirgends. 
Der Werdegang der jungen Frau aber ist eindrücklich in Szene gesetzt, trotz der klassischen Dramaturgie hat er Überraschendes zu bieten und will auch nicht alles zu Ende erzählen. In einer Nebenrolle spielt Anna-Maria Mühe angenehm zurückhaltend.

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