Freitag, 12. Oktober 2012

Drei mal krasses Frankreich




Notre Jour Viendra (F 2010) von Romain Gavras
Elles (2011) von Małgorzata Szumowska
Les Neiges du Kilimandjaro (2011) voRobert Guédiguian


Würden aus Frankreich nur landein landaus gefeierte Komödien wie Bienvenu chez les Chtis oder Les Intouchables in unsere Kinos und DVD-Tankstellen kommen, ich hätte das Interesse an diesem Filmland schon längst verloren und mich – sagen wir mal – Bulgarien, Nordkorea oder dem Feuerland zugewendet. Der Grund, weshalb mich diese launigen Feelgoodgeschichten langweilen, ist nicht, weil sich wirklich every Tom, Dick und Harry (englisch hat so tolle Wendungen) dafür begeistern. Sondern weil sie so absehbar sind wie ein Besuch in einem der umsatzstarken amerikanischen Spezialitätenrestaurants, um einen befreundeten Berliner Stadtbilderklärer zu zitieren. Familientauglich, weichgekocht, ausgeleiert, konventionell. Im Westen nichts Neues.
Ganz anders zumindest zwei der drei Filme, die hier vorgestellt werden. Alle drei mit politischer Aussage und alle drei Überraschungseier. 

Der gute Mensch von Marseille


Les Neiges du Kilimandjaro (2011) von Robert Guédiguian


Am zahmsten kommt noch Robert Guédiguians Les Neiges du Kilimandjaro (2011) daher. Der überzeugte Genosse Michel (Jean-Pierre Daroussin) hat sich aus freien Stücken um seine Beschäftigung gebracht. Er wollte sich aus Solidaritätsgründen nicht der Auslosung entziehen, welche die Gewerkschaft im Auftrag der Firmenleitung  als Maßnahme durchführte, um eine Schließung zu verhindern, und hat sich selber aus dem Erwerbsleben gelost. Immerhin: Das Häuschen ist abbezahlt, seine Frau Marie-Claire (Ariane Ascaride) liebt ihn für seinen Idealismus und die Kinder sind aus dem Haus. Es gibt sicherlich schlimmere Schicksale, als im schönen Stadtteil von Marseille in den Frühruhestand zu treten, sofern die Kasse stimmt. Bei der Abschiedsfeier sind alle Freunde und Leidensgenossen eingeladen, die Kinder schenken dem Paar eine Reise zum Kilimandscharo.


Doch das Elend des Midi ist nahe, zu nahe, und trifft die beiden in Form eines Raubüberfalls im eigenen Haus. Die Reisegutscheine wechseln den Besitzer, die Konten werden geleert, Michel bricht sich den Arm, ansonsten kommt man mit dem Schrecken davon. Durch einen Zufall kommt Michel dem Täter auf die Spur und schaltet die Polizei ein. Die Ernüchterung ist groß, als sich herausstellt, dass es ein ehemaliger Mitarbeiter ist. Dem ebenfalls entlassenen, aber 30 Jahre jüngeren Christophe (Grégoire Leprince-Ringuet) ist in seiner Not nichts Besseres eingefallen, als bei dem Mann einzubrechen, an dessen Fest er mittrank.


Michel versteht die Welt nicht mehr. Ist das der Dank für seine Solidarität? Für solche Menschen hat er sich ein Leben lang als Gewerkschafter eingesetzt?  Der Film erzählt von einer politischen Haltung auf dem Prüfstand, und davon, wie Michel mit seiner Verbitterung umgeht. Spielt es in seiner Lage noch eine Rolle, dass Christophe zwei kleine Brüder zuhause hat, der Vater unbekannt ist und sich die alleinerziehende Mutter nicht um sie kümmert?


Der Film, der auf Victor Hugos Gedicht Les pauvres gens (1859) beruht, hat gewisse dramaturgische Schwächen und fordert Geduld vom Zuschauer, aber er ist heartwarming und stellt eine wichtige Frage: die nach der Festigkeit unserer Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit und nach unserem Umgang mit dem konkreten Elend vor unserer Tür. Kein neues Thema, zugegeben, auch kein sehr erbauliches, aber auch keines, das man sich wegwünschen kann, denn Marseille ist überall.


Die Nutten von Paris und die unheimliche Sehnsucht nach dem Begehren

Elles (2011) von Małgorzata Szumowska

In einer Art Vorruhestand befindet sich auch Anne (Juliette Binoche) in Małgorzata Szumowskas anspruchsvollem Film Elles (2011). Allerdings ist es eher ein Ruhestand der Leidenschaften und der Erwartungen an das Leben in einem Alltag des gehobenen mitteleuropäischen Erwerbsbürgertums. Um es vorwegzunehmen: Es ist derjenige unter den drei ausgewählten Filmen, der mich am meisten berührte und dramaturgisch am meisten überzeugte.


Die arrivierte Journalistin und Mutter zweier Kinder arbeitet an einer Reportage über Prostitution unter Pariser Studentinnen, und zu Beginn sieht alles danach aus, als sorge sich hier eine abgeklärte Intellektuelle mit professioneller Neugier und Routine um das seelische und körperliche Wohl der jungen Frauen, die ihr freimütig von ihren teils krassen Erlebnissen mit den Freiern erzählen. Womit Anne und wir als Zuschauer nicht rechnen: beide Frauen, sowohl Lola (Anaïs Demoustier) als auch Alicja (Joanna Kulig), mögen ihren Alltag und stehen dazu. Das Geld, das sie damit verdienten, sei wie eine Sucht, wie das Rauchen, man könne nicht aufhören, und dafür nehmen sie bereitwillig manches in Kauf. Wie bitte? Sofort ist man skeptisch, vermutet Naivität und mangelnde Reflexion der eigenen Ausgeliefertheit.


Die Polin Alicja beispielsweise begann aus Not mit der Prostitution. Die Vermietung des Zimmers, das ihr die Mutter von Polen aus gemietet hatte, wurde vom Besitzer an die unverschämte Bedingung geknüpft, sich vor ihm zu entblößen, sie müsse sich doch darüber im Klaren sein, dass sie sonst kein so günstiges Zimmer in dieser Lage bekäme. Weil sie dazu nicht bereit war und nachdem sie feststellen musste, dass man ihr an der universitären Zimmervermittlungsstelle nicht weiterhalf, kam sie zunächst bei einem Kommilitonen unter, der ihr erklärte, dass sicher jeder Mann gerne mit ihr ins Bett wolle. Diesen Umstand machte sie sich zunutze.


Alicja wie Lola (die eigentlich Charlotte heißt) genießen es, begehrt zu werden, ihre handverlesenen Freier erzählen ihnen viel aus ihrem Alltag und verwöhnen sie mit ihrer Bewunderung und Aufmerksamkeit, sie bekochen sie, singen ihnen Lieder vor, machen sie mit dem Begehren vertraut. Die Demütigung, nach der Anne immer wieder fragt, findet zwar statt, sie wird weder ausgeblendet noch schöngeredet, sie scheint aber eine untergeordnete Rolle zu spielen, dazu treten Lola und Alicja viel zu selbstbewusst auf. Und es scheint, als ob die Erfahrungen und deren Grenzwertigkeit sie mitunter mit einer Seite des Lebens vertraut machen, die Anne in ihrem eigenen Leben vermisst, und zwar schmerzlich. Grenzerfahrungen der Leidenschaft und des Begehrens.


Denn parallel zu ihren Gesprächen mit den beiden jungen Frauen erleben wir Anne in ihrem Alltag als zunehmend fahrig und unzufrieden, sowohl unter- als auch überfordert. Einkaufen und raffiniert kochen für den Chef ihres Mannes, der zum Abendessen eingeladen ist, den Kleinen vom Spiel mit der Playstation abhalten, sich vom Größeren sagen lassen müssen, dass er ja nicht so werden wolle wie seine Eltern und ihr rät, auch mal zu kiffen. Auf dem Computer des Mannes (Louis-Do de Lencquesaing) entdeckt sie Pornos. Und dann ist da dieser verdammte Kühlschrank, der einfach nicht schließt. 


Nein, man beneidet sie nicht um diesen ganz normalen Alltag, und man sorgt sich plötzlich nicht mehr die beiden jungen Frauen, sondern um die Frau, die doch alles richtig gemacht hat in ihrem Leben: Familie, Karriere, schöne Wohnung. Sie fragt sich natürlich unweigerlich: Wenn so viele Männer zu solchen Frauen wie Lola und Alicja gehen, was ist dann mit meinem Mann? Und plötzlich sitzt sie wie eine Fremde am eigenen Küchentisch, bei Coq au Vin und inmitten einer belanglosen Konversation über Feriendestinationen. Elles verschafft uns einen ganz neuen Blick auf Annes Leben, das sich doch ganz erstrebenswert zeigte zu Beginn, wie auch auf das Leben der jungen Pariser Prostituierten, vielleicht beschönigend, vielleicht gefährlich, aber jedenfalls frei von einer fragwürdigen Moral.


Der sorgfältig gemachte Film ist schwierig insofern, als man bis zuletzt seiner eigenen Wahrnehmung nicht traut, er fordert einen und mutet einem allerhand zu (freigegeben ab 16 Jahren), aber dadurch löst er auch etwas aus in einem, emotional und intellektuell.  Und was kann man mehr von einem Film erwarten, der nicht bloß unterhaltend sein will?



Amoklauf der besonderen Art

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Notre Jour Viendra (F 2010) von Romain Gavras

Im Vergleich dazu ist der dritte Film streckenweise eine Zumutung, von der man nicht zu jedem Zeitpunkt sicher ist, ob man sie aushält oder aushalten möchte. Das Roadmovie Notre Jour Viendra (F 2010) von Romain Gavras erzählt von einer Art Amoklauf eines ungleich gleichen Paars, dem jugendlichen Rémy (Olivier Barthelemy) und dem Psychologen Patrick (Vincent Cassel in seiner bisher krassesten Rolle). Was die beiden Männer verbindet, sind zwei Dinge: der Umstand, dass sie rothaarig sind, und dass sie beide aus ihrem Leben ausbrechen wollen. Wer eine mutige Prämisse für einen Langspielfilm sucht, voilà, diese hier ist schwer zu toppen.

Was ist genau ihr Problem? Der schlaksige Rémy fühlt sich zuhause und von Gleichaltrigen gegängelt, er flüchtet sich in die World-of-Warcraft und verliebt sich in eine Mitspielerin, die er noch nie gesehen hat und die sich später als Mann entpuppen wird. Patrick langweilt sich derart über die Erzählungen seiner Patienten, dass er während der Sitzung eine Tüte Chips rausholt. Vincent Cassel scheint keine Probleme damit zu haben, von Beginn an die Rolle des unsympathischen Größenwahnsinnigen zu spielen und erinnert in den besten Passagen an Klaus Kinski, was unbedingt als Lob zu verstehen ist.


Per Zufall lernen sich Patrick und Rémy kennen und im Handumdrehen macht sich der Ältere zum Mentor des Jüngeren. In mephistophelischer Manier fordert er ihn dazu auf, für sich einzustehen und alle Freiheiten zu nützen, um sich andere untertan zu machen und damit sein Selbstwertgefühl zu stärken. Die Rothaarigen gegen den Rest der Welt, scheint die Parole zu lauten. Opfer war gestern –The Empire Strikes Back. Die Rothaarigen seien ein Volk ohne Land und ohne Armee. Mit dieser hanebüchenen Kampfansage im Köcher sieht sich Patrick ins Recht gesetzt, Vertreter anerkannter Minoritäten wie Juden und Muslime, die ihren Weg kreuzen, zu beleidigen und anzugreifen, und schlägt mit seiner aggressiven Energie Rémy in seinen Bann: ›Willst Du Exilant sein oder Messias?‹, fragt er ihn, und die Antwort lässt nicht auf sich warten.


Auf der Suche nach dem Gelobten Land geriert sich Patrick als großes Vorbild, provoziert den jüngeren nach Leibeskräften, um ihn anzustacheln, pöbelt willkürlich Leute an und heckt allerlei pubertär wirkende Vorhaben aus, die auch stante pede umgesetzt werden. A Clockwork Orange goes France, könnte man meinen. Nur geht es hier um eine Art Befreiungskrieg in Guerillaform, allerdings auf ähnlich willkürlichen Bahnen. Sie brechen in Supermärkte ein, reißen junge Frauen auf, kommen auf fragwürdige Weise in den Besitz eines roten (!) Porsche und ziehen marodierend und vorläufig ziellos durch die unwirtlichste Gegend Frankreichs, die ich seit langem in einem Film gesehen habe, eine postindustrielle Mondlandschaft. Eins ist klar: das Gelobte Land sieht anders aus. 
Das entdeckt der selbsternannte Messias Rémy dann rein zufällig auf einem Werbeprospekt: Ab nach Irland, der Insel der Rothaarigen. Fragte man sich schon zuvor, wer hier eigentlich wessen Defizit wettmacht, ist nun der Wendepunkt erreicht. Hielt zu Beginn klar Patrick das Ruder in der Hand, macht
sich nun der zu Beginn schüchterne Rémy  – und mit einer Armbrust (!) bewaffnet – zum Anführer.


Und als ob sie zwei widerstreitende Teile eines Körpers wären, scheint parallel dazu Patrick an Kraft zu verlieren, er fällt in sich zusammen und wirkt zwischenzeitlich wie ein gebrochener Mann. Spätestens als er sich irgendwann den Kopf kahlrasiert, wird klar, dass die Rothaarigkeit den beiden nur Vorwand war, um sich aus einem dahindümpelnden Leben heraus- und in eine Piratenexistenz hineinzukatapultieren. Die Macht der Erzählens steht dabei über alles. Zwar bleiben viele Fragen offen und manches erscheint etwas wirr, dennoch strahlt Notre Jour Viendra eine Kraft und einen Anarchismus aus, inhaltlich wie formal, der ihn sehenswert und einzigartig macht.
Ein vorläufiges Fazit: Frankreichs Filmmaschine bleibt ein Überraschungsei – und man tut gut daran, sich an die kleinen Filme zu halten, die nicht in jedem Kino laufen und die einen mit ihren Geschichten zu überraschen vermögen.


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