Samstag, 24. November 2012

Marlen Haushofer: Die Wand (1963)


Von Mensch und Tier

aktuell, weil gerade verfilmt – Trailer
›Die Wand‹ schildert auf dreihundert Seiten die Robinsonade einer Frau im postnuklearen Zeitalter, geschrieben vor einem halben Jahrhundert. Vor der Lektüre hatte ich meine Zweifel, ob ich das durchhalte. Eine Geschichte um den Rückzug und den Umgang mit der Einfachheit und Einsamkeit, ohne Ausblick, ohne Zukunft. Reduziert auf das zum Überleben Notwendige. Schlaf, Nahrungsbeschaffung, Arbeit. Berge, Wald, Wiesen. Wetter, Jahreszeiten, Ruhe. Die einzigen relevanten Beziehungen sind diejenigen der Protagonistin zu sich selbst und zu ihren Tieren: Kühe, Katzen, ein Hund. Klar, ein Rousseau hätte seine Freude daran. Aber was geht mich das an?
Die Wand ist durchsichtig, aber undurchlässig und unüberwindbar. Und das ist auch gut so, denn ohne sie gäbe es keinen Roman: dahinter ist alle bewegte Natur tot. Ein freundliches Freilichtmuseum, ein großes Pompeji, nur etwas grüner, denn wir befinden uns in den Alpen. Versteinerte Menschen sitzen erstarrt auf Bänken, Vögel liegen unbeweglich im Gras, nach und nach wächst über alles grüne Natur. Am Morgen nach einer verschlafenen Nacht war sie plötzlich da, die Wand, ohne Anfang und Ende, wie eine auf die Erde gefallene Käseglocke ohne Deckel. Durch sie ist die Protagonistin vom Rest der Welt getrennt, ihr verdankt sie ihr Leben. Die Wand ist die Grenze, die ihr sagt: bis hierher und nicht weiter. Und jetzt: lebe.
So weit, so allegorisch.
Genauso kafkaesk wie die jähe Umkehrung der Welt ist die Reaktion der Frau: Analog zu Gregor Samsa, der sich kaum darüber wundert, dass er über Nacht zum Ungeziefer verwandelt wurde, nimmt auch sie das groteske Neue hin, als handelte es sich bloß um eine beliebige weitere Laune des Lebens. Da ist jetzt eben diese Wand. Vielleicht hat sie ja was Gutes? Vielleicht war sie ein heimlicher oder lange verdrängter Wunsch, der wahr geworden ist? Vielleicht verkörpert sie die plötzlich sichtbar gewordene Wirklichkeit, auf die vorher der Blick verstellt war? Natürlich stellt sie sich diese Fragen nicht selber, aber sie beschleichen einen, während man staunend weiterliest, wie pragmatisch diese Frau daran geht, ihr Überleben zu organisieren. Die neue Einschränkung, der Eintritt des Unsagbaren, haben von Anfang an kaum etwas Erschreckendes, eher etwas Befreiendes. Das erinnert jetzt schon mehr an Kirsten Dunst in Lars von Triers Melancholia: die Geschichte einer depressiven junge Frau, die sich gerade verzweifelt dem optimistischen Akt einer dekadent-opulenten Trauung entwunden hat, und die das Ungeheuerliche begrüßt, das absehbare Ende von Allem, weil es für sie nur eine Frage der Zeit war, dass es eintritt, weil es ihrer Ansicht nach überfällig war, weil es im Grunde immer schon most obvious war. The world is foul. Nun, da ihr die Ungewissheit genommen wurde, kann sie sich damit gut arrangieren.
Zwar rechnet Haushofers Protagonistin zu Beginn noch damit, dass der Zustand der kompletten Isolation ein vorübergehender sei („wenn sie kommen«), es wird aber deutlich, dass sie allenfalls gewisse Annehmlichkeiten vermisst und sich unsicher ist, wie sie alleine zurechtkommt. Mit der Zeit erübrigt sich auch das. Sie braucht niemanden. Sie passt sich an, und zwar erstaunlich leicht. Im Grunde scheint sie ihr altes Leben schon lange abgestreift zu haben, mitsamt ihrem Mann, den sie verlassen hat, und ihren entwachsenen Töchtern im Teenageralter, die sie nur als kleine Kinder in Erinnerung bewahrt, weil danach ein wohl unumkehrbarer Entfremdungsprozess einsetzte; sie verstand sie nicht mehr, fühlte sich nicht mehr von ihnen gebraucht, die Liebe ging verschütt. Sie hat alles im Tal gelassen und vermisst nichts, höchstens gewisse Nahrungsmittel, aber jedenfalls keinen Menschen, im Gegenteil. Wie die teuren Schuhe, die stets ein wenig drückten und die man aus Nachlässigkeit in einem Hotelzimmer liegen lässt; als man es merkt, ist man im Grunde erleichtert – waren Sie nicht immer vor allem eine Qual?
»Wenn ich heute an die Frau denke, die ich einmal war […] empfinde ich wenig Sympathie für sie. Ich möchte aber nicht zu hart über sie urteilen. Sie hatte ja nie die Möglichkeit, ihr Leben bewußt zu gestalten. Als sie jung war, nahm sie, unwissend, eine schwere Last auf sich und gründete eine Familie, von da an war sie immer eingezwängt in eine beklemmende Fülle von Pflichten und Sorgen. Nur eine Riesin hätte sich befreien können, und sie war in keiner Hinsicht eine Riesin, immer nur eine geplagte, überforderte Frau von mittelmäßigem Verstand, obendrein in einer Welt, die den Frauen feindlich gegenüberstand und ihnen fremd und unheimlich war. Von vielen Dingen wußte sie ein wenig, von vielen gar nichts; im ganzen gesehen herrschte in ihrem Kopf eine schreckliche Unordnung. Es reichte gerade für die Gesellschaft, in der sie lebte, die genauso unwissend und gehetzt war wie sie selbst. Aber eines möchte ich ihr zugute halten: sie spürte immer ein dumpfes Unbehagen und wußte, daß dies alles viel zu wenig war.« (S. 82f.)
Der Roman hat die Form eines Binnenberichts, den die Frau nach ca. zweieinhalb Jahren in der Einsamkeit verfasst. Was angesichts des Zustands der Welt vorderhand als unsinnig erscheint, kann man als Zeichen werten, dass sie die Hoffnung nicht aufgegeben hat (oder nicht aufgeben kann), es gebe noch jemanden, der ihn lesen wird; oder als Akt der Selbstvergewisserung, ein Eingeständnis an die conditio humana. Scribo ergo sum. Nachdem sie sich mit der Situation arrangiert hat und sich eine gewisse Routine im Überleben eingestellt hat, kann sie nur schreibend fortexistieren, sei es, um sich selbst aufrecht zu halten, sei es, um Ängste zu bekämpfen, sei es, um dadurch am Leben zu halten, was sie am Leben hielt, um damit eine Erinnerung zu schaffen an die Herausforderungen, die Tiere, das Immerweiter. Wenn Hamlets The rest is silence mehr als ein geflügeltes Wort ist – wer wenn nicht sie selbst kann die eigene Geschichte schreiben?
Von leichter Hand geschrieben, staunt man darüber, mit wie viel Neugierde man die sich wiederholenden Abläufe liest, der sich ankündigende Winter, das regenverhangene Tal, das sich anbahnende Sommergewitter, der Regenguss und die gereinigte Luft nach dem Einbruch des Föhns, dann die Arbeit mit dem Holz, das Mähen der Wiesen, der Anbau von Kartoffeln, die Ernte der Himbeeren (ihre Süße!), das Töten der Rehe und Hirsche, an das sie sich gewöhnen muss, aber nicht kann, das Melken der Kuh, die ihr zugelaufen ist. Überhaupt die Tiere: ›Hier eine Katzengeschichte‹, soll Haushofer geflachst haben, als sie dem Verleger das Manuskript überreichte (Nachwort, S. 281). Wenn es eine Gliederung in dem ansonsten kapitellosen Roman gibt, dann wird sie von Ereignissen im Zusammenhang mit den verschiedenen Katzen, den beiden Kühen und dem Hund vorgegeben, ein Kollektiv anstelle von Freitag, der Defoes Robinson auf der einsamen Insel Gefährte ist. Sie ersetzen ihr die Menschen und wachsen ihr mehr ans Herz, als es je ein Mensch geschafft hat. Sie lernt sie zu lesen und zu lieben, lässt sich auf Verträge mit ihnen ein, ein Sammelsurium von Verhaltenscodices, trauert um sie, wenn sie sterben oder verschwinden, beneidet sie um die Unschuld ihrer Kreatürlichkeit:
»Das einzige Wesen im Wald, das wirklich recht oder unrecht tun kann, bin ich. Und nur ich kann Gnade üben. Manchmal wünsche ich mir, diese Last der Entscheidung liege nicht auf mir. Aber ich bin ein Mensch, und ich kann nur denken und handeln wie ein Mensch. Davon wird mich erst der Tod befreien.« (S. 128)
Wem das zu banal ist, der läuft Gefahr, sich über den Roman zu ärgern. Zugegeben: Man lernt hier nichts Neues, die philosophischen Passagen sind so simpel wie grundlegend und stets eingebettet in konkrete Vorgänge, sie riechen nach Erde, für Höhenflüge ist diese Frau zum einen zu beschäftigt (und erschöpft) und zum andern zu sehr der Scholle verschrieben, wohl oder übel. Aber sie ufern auch nicht aus, sind nie kitschig, und wirken in ihrer Einfachheit glaubwürdig und unprätentiös wie die Naturbeschreibungen. In der folgenden Textstelle erklärt sie, wieso sie an gewissen zivilisatorischen Angewohnheiten wie dem Aufziehen von Uhren und den regelmäßigen Kalendereinträgen festhält
»Ich weiß nicht, wieso ich das tue, es ist fast ein innerer Zwang, der mich dazu treibt. Vielleicht fürchte ich, wenn ich anders könnte, würde ich langsam aufhören, ein Mensch zu sein, und würde bald schmutzig und stinkend unherkriechen und unverständliche Laute ausstoßen. Nicht daß ich fürchtete, ein Tier zu werden, das wäre nicht sehr schlimm, aber ein Mensch kann niemals ein Tier werden, er stürzt am tier vorüber in einen Abgrund.« (S. 44)
Mich fasziniert vor allem, wie sie in der neuen Lebenslage sich und ihrem Körper nahe kommt, seine Grenzen kennenlernt, sie je nachdem ausdehnt und auslotet, und wie unpathetisch sie die Zustände hinnimmt, die die Situation in ihr auslösen. Man staunt über die Zähigkeit dieser Frau, die vielen kleinen Schritte und Erkenntnisse, mit denen sie sich und die Welt neu entdeckt, und der aufrichtige trockene Ton, mit dem das beschrieben wird. Und man hat seltsamerweise auch viel zu lachen, weil Haushofer ein Händchen dafür hat, den anthropomorphen Blick auf das Wesen der Tiere in Sprache zu fassen und die Spiegelneuronen feuern zu lassen. Über ihren Hund namens Luchs schreibt sie einmal:
»Ich konnte neben Luchs nie lange traurig bleiben. Es war fast beschämend, daß es ihn so glücklich machte, mit mir zusammen zu sein. Ich glaube nicht, daß wildlebende erwachsene Tiere glücklich oder auch nur fröhlich sind. Das Zusammenleben mit den Menschen muß im Hund diese Fähigkeit geweckt haben. Ich möchte wissen, warum wir auf Hunde wie ein Rauschgift wirken. Vielleicht verdankt der Mensch seinen Größenwahn dem Hund. Sogar ich bildete mir ein, es müßte an mir etwas Besonderes sein, wenn Luchs sich bei meinem Anblick vor Freude fast überschlug. Natürlich war nie etwas Besonderes an mir, Luchs war, wie alle Hunde, einfach menschensüchtig.« (S. 116)
Nebst vielem anderen ist es auch der anarchistische Ésprit, der aus solchen Passagen spricht, dass mich das Fehlen eines klassischen Spannungsbogens überhaupt nicht störte. Die Frau lebt irgendwie weiter, was sonst.
Die Lektüre wurde mir in den letzten paar Tagen zur zivilisatorischen Atempause – ein doppelter geistiger Rückzug unter Verzicht auf sämtliche Zutaten zeitgenössischen Lebens und Strebens, virtuell wie real, sozial, emotional. Ein meditatives Bullerbü mit einer Messerspitze Philosophie. Für einmal kein Krieg zwischen den Geschlechtern und Generationen, keine Zeitkrankheiten und Begehrlichkeiten, keine Konsum- oder sonstige Sozialkritik, keine Liebes- oder Lebenskrisen, nicht mal Sinnfragen. Es geht bloß – um alles oder nichts.

Ausgabe:
Haushofer, Marlen: Die Wand. (erstmals 1963)
List/UllsteinBuchverlage GmbH, Berlin 2012.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen