Donnerstag, 3. Januar 2013

Joyce Carol Oates: Rape. A Love Story / Vergewaltigt. Eine Liebesgeschichte (2003)

Düsteres Sittengemälde aus der amerikanischen Provinz


Die Kombination von Titel und Gattungsbezeichnung ist gewagt, provokativ und scheint an ein Tabu zu rühren. Vergewaltigung und Liebe schließen sich aus, eine kausale Verknüpfung kann wohl kaum gemeint sein. Aber was dann? Im Verlauf des Romans löst sich der vermeintliche Widerspruch auf, aber nicht restlos. Er verweist darüber hinaus auf eine Problematik, die hinter der Handlung liegt. Und die ist im vorliegenden Fall brisant und durchaus politischer Natur.

Die Handlung


1996, Niagara Falls, unweit der amerikanisch-kanadischen Grenze. Die Tat steht gleich auf den ersten Seiten beschrieben. Sie geschieht kurz nach Mitternacht, am Ende des amerikanischen Nationalfeiertages. Teena Maguire, Mitte dreißig, früh verwitwet, eine lebenslustige und selbstbewusste schöne Frau, die sich mädchenhaft anzieht und gerne flirtet, durchquert mit ihrer zwölfjährigen Tochter Bethie auf dem Heimweg von einer Feier einen Park. Dort werden die beiden von einer Horde zugedröhnter Männer belästigt und Teena wird mehrfach vergewaltigt. Nach einer halben Stunde lassen die Männer die blutende Frau halbtot liegen, die nur leicht verletzte Bethie wird bei der Zeugenaussage zugeben müssen, dass sie die Tat nur gehört, aber nicht mit eigenen Augen gesehen hat, wer alles über ihre Mutter hergefallen ist. Sie hatte sich am Tatort, einem Bootshaus, dem Zugriff der Männer entzogen und sich unter den Booten versteckt. Der erste, den sie sieht und dem sie davon erzählt, ist der Polizist John Dromoor. 

Teena überlebt knapp, erst mehrere Wochen später erinnert sie sich daran zurück, was ihr widerfahren ist, und verweigert sich fortan dem Leben. Alkohol, Medikamente, Depressionen, manchmal verlässt sie tagelang nicht ihr Schlafzimmer. Sie hat das eigene Haus aufgegeben, auf dem sie zuvor bestanden hatte, weil es für sie die Freiheit bedeutete, Männer nach Hause nehmen zu können und vielleicht eine neue Beziehung aufzubauen, z.B. mit ihrem Freund Casey. Seit dem Gewaltakt will sie von ihm nichts mehr wissen, auch von keiner Zukunft, sie wohnt mit Bethie wieder bei ihrer Mutter, die sich um sie kümmert. Das ist ein wesentlicher Aspekt des Dramas, den Oates hervorhebt: Wie die Gewalt nachwirkt, wie sie einer Frau den Daseinsgrund und die Würde raubt und sie damit der Selbstzerstörung preisgibt. Dreißig läppische Minuten haben aus Teena eine gebrochene Frau ohne jeden Lebenswillen gemacht.
Für die Tochter bedeuten diese dreißig Minuten das Ende ihrer Kindheit. Ihr steht eine zeit bevor, in der sie den Rollentausch vornehmen muss und auf die Mutter aufpassen. Dass die sich nicht umbringt. Die Passagen, in der es sich um Bethie dreht, sind als Anrede in der zweiten Person Singular geschrieben, was eine größere Nähe zur inneren Wahrnehmung des überforderten Kindes herstellt.

»Die Zeugenaussage deiner Mutter ist wichtiger als deine, haben die Detectives dir erklärt. Ohne ihre Aussage gibt es für die Schuld der Verdächtigen nur Indizien, keine Beweise. Du weiß nicht, warum. Du verstehst nicht, warum das so ist. Sie haben deine Mutter übel zugerichtet, haben sie geschlagen und aufgerissen und dort auf dem Boden des Bootshauses fast verbluten lassen. Ja, aber man muss es beweisen. Vor Gericht. Es reicht nicht, dass es passiert ist. Dass Teena Maguire fast zu Tode gekommen ist. Man muss es auch noch beweisen.« (S. 65)

Das frauenfeindliche Milieu


Immerhin hat Teena die Täter identifiziert, es kommt zu einer ersten Gerichtsverhandlung. Die Verurteilung scheint nur eine Formfrage, doch die Familien der fünf angeklagten Täter haben zusammengelegt und einen Staranwalt aus NYC namens Kirkpatrick engagiert. Kirkpatrick leugnet kurzerhand den Tatbestand der Gruppenvergewaltigung mit schwerer Körperverletzung und verdreht die offensichtlichen Tatsachen. Es habe sich um Geschlechtsverkehr in gegenseitigem Einvernehmen gegen Geld gehandelt, die Misshandlungen seien von anderen Männern vorgenommen worden, das ist eine perfide Variante dessen, was die Indizien hergeben. Aussage gegen Aussage, denn Bethie hat die Vergewaltigung eben nur gehört, nicht gesehen. Das ist schlimm genug. Mindestens ebenso schlimm aber ist der Umstand, dass es in der kleinen Stadt nicht wenige gibt, die davon überzeugt sind, dass Kirkpatrick die Wahrheit sagt. 

Das ist eine weitere Seite des Dramas, das Oates sorgfältig ausmalt: das provinzielle, engstirnige und engherzige Milieu, die Missgunst, Bösartigkeit und latente Frauenfeindlichkeit vieler Mitbürger, in deren Köpfen sich nach der Tatnacht das Bild der hübschen junggebliebenen Frau in das einer Verführerin und Schlampe verkehrt. Teenas Lebenslust und Freizügigkeit waren manchen ein Dorn im Auge, es war registriert worden, wie die Männer ihr immer nachgesehen haben und sie es genossen hat. Liegt es da nicht auf der Hand, dass Kirkpatrick die Wahrheit spricht. Oder dass es ihr jedenfalls recht geschieht, selbst wenn er unrecht hat? Das hat sie doch gewollt. Damit musste sie doch rechnen. Das hat sie sich selbst zuzuschreiben. Starke, schwer erträgliche Bilder weiblicher Opfergänge aus Filmen von Lars von Trier kommen einem in den Sinn, z.B. Dogville oder Breaking the Waves, aber auch Whistleblower von Larysa Kondracki (2010), Angelinas Jolies starkes Regiedebut In the Land of Blood and Honey (2011), Denise Villeneuves Incendies (2010) oder Max Färberböck Anonyma – Eine Frau in Berlin mit Nina Hoss in der Hauptrolle. 

***

Besonders krass ist das Bild, das der Roman von den Männern in Niagara Falls zeichnet. Stumpfsinnig, gewaltbereit, dabei durchaus feige, und selbstgerecht bis auf die Knochen. Zur Illustration eine Beschreibung von einem der Täter, Fritz Haaber: 

»Wie ein scheißtickender Taxometer so eine Anwaltsklappe. Wenn er diese Scheiße erst hinter sich hatte, dachte Fritz manchmal […] würde er schauen, ob er nicht selbst Anwalt werden konnte, die Typen scheffelten Kohle fürs bloße Sabbeln, das hielt man im Kopf nicht aus. was war schon dabei, Anwalt zu sein? Er, Fritz, hatte schließlich schon alles Mögliche gemacht, schon auf der Highschool für die Parkverwaltung geastet, den Hilfskellner in Niagara Grand gegeben […] Jede Art von dämlichen Scheißjob hatte er schon gemacht, aber alles real, konkret. Nicht so Luftnummern aus lauter Worten.« (S. 153)

»Fritz war seit der Festnahme nicht mehr derselbe, […] Am Abend des vierten Juli hatten Teenies in satinglänzenden Cheerleaderfähnchen beim Baseballmatch der Highschools im Park mit Ärschen und Titten gewackelt. […] Fritz stand auf kleine Mädchen, frotzelten die Kumpel. Frauen über zwanzig törnten ihn ab, die wussten zu viel […] Während so eine Kleine, wirklich jung noch […] das war noch was anderes. Die witzelte nicht, die hatte eine Heidenangst, Respekt eben.« (S. 154f.)


Das schwer erträgliche Thema der Vergewaltigung


Die Frage, was Vergewaltigung bei einem Menschen anrichtet, ist selten dein zentraler Gegenstand von Literatur oder Film, seltener als andere Formen des Verlustes oder der körperlichen und seelischen Versehrung. Täusche ich mich oder ist das so? Wenn ja, warum halten wir es so schlecht aus, ein solches Schicksal erzählt zu bekommen und es hautnah mitzuerleben? Sicher wegen der Ohnmacht und der Scham, welche die Vergewaltigungsopfer oft ein Leben lang mit sich tragen müssen und die wir als Leser oder Zuschauer mitauszuhalten gezwungen sind.
Vielleicht auch, weil eine Vergewaltigung einen Akt darstellt, der in jene menschliche Sphäre eindringt, die idealerweise mit dem Gegenteil von Gewalt verbunden wird: mit Zärtlichkeit, Vertrauen, Sinnlichkeit, der körperlichen Lust, dem sexuellen Rausch, der glücklichen Vereinigung mit einem geliebten Partner, mit dem Maximum an sinnlich-körperlicher Empfindungsfähigkeit. Wer vergewaltigt wird, ist in ebendem Moment der Gewalt ausgesetzt, in dem sich der Vergewaltiger Lust verschafft, die angesichts der ausgeübten Gewalt nicht nachlässt, sondern davon genährt wird. Ob dem Vergewaltigungsopfer jemals wieder eine intime Beziehung möglich ist, ist ungewiss. Damit ist aber auch eine ganz zentrale Form des Glücks infrage gestellt, ein Zustand, den wir uns nur ungern vorstellen.

***

Die wichtigste männlicher Figur ist der Polizist John Dromoor. Für Bethie ist er eine Lichtfigur, vielleicht weil er es war, der sie in der Tatnacht als erster sah und die Rettung von Teena einleitete. Dem Leser ist er bis zuletzt unheimlich. Seine Liebe zum Dienst, sein Patriotismus und seine Autoritätsgläubigkeit hat sich in ihm seit seinen Einsätzen in den beiden Golfkriegen verfestigt. Und er mag seine Waffen mehr, als man es wissen will:


»Dromoor besaß inzwischen ein Gewehr. Er entwickelte Sinn für die Schönheit eines schlanken, kalt schimmernden Gewehrlaufs, das blanke Holz des Kolbens. […] Dromoor lächelte. Sagte sich, auf die eigenen Scheißhände konnte er sich wenigstens verlassen, keine sonst. Ließ die Gedanken aufsteigen und treiben. Brauchte nicht groß überlegen, konnte sich auf seinen Instinkt verlassen. […] Wenn man erst abgedrückt hatte, dann war's das – vorausgesetzt, man beherrschte seine Sache – für die Zielperson. war die Zielperson erst weg, konnte sie nicht gegen dich aussagen.« (136f.)

Wer so eine Sprache spricht, der zögert auch nicht, seine Waffen zu benützen. Spielt es eine Rolle, wer die Zielpersonen sind? Mit John Dromoor hat Oates eine Figur geschaffen, der wir mit zwiespältiger Sympathie begegnen. Sie verkörpert unsere Sehnsucht nach einer Form von Gerechtigkeit und erinnert uns gleichzeitig ungut an die Gewaltbereitschaft, die in den Primatenhirnen der Vergewaltiger  dominiert. Und an die Tatsache, dass jene in der Mehrzahl sind. Und die applaudierenden Zuschauer sowieso. Die amerikanische Provinz kann einem Angst und Schrecken einjagen, ob es nun die Filme der Coen-Brothers sind oder dieser Roman von Joyce Carol Oates.


Joyce Carol Oates: Vergewaltigt. Eine Liebesgeschichte. (erstmals 2003) Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. Fischer, FaM, 2012. 170 Seiten.

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