Dienstag, 1. Januar 2013

Rage (USA 2009)


Regie: Sally Potter
mit: Jude Law, Judi Dench, Steve Buscemi

☞ Trailer

Das gleißende Ich 

Untiefen und Abgründe in der Modebranche


Michelangelo dreht einen Schülerfilm über eine Modeschau. Er fungiert als Sally Potters unsichtbarer Regisseur. Wir werden ihn nie zu Gesicht bekommen, denn wir blicken mit ihm durch die Linse seiner statischen, stets nach vorne ausgerichteten Kamera, und zwar über die gesamte Dauer des Films. Michelangelo ist ein Nobody. Aber sein Film im Film IST zuletzt der eigentliche Film. Und vor seiner Linse baut sich eine fertige Welt auf, die sich als ein menschliches Theater entpuppt, ohne dass ein Drehbuch vorliegt. All the world's a stage. Und die Modewelt ist eine mit unzähligen Hauptdarstellern und vielen Falltüren. 

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Vor dem Blue Screen, den Michelangelo eingerichtet hat, erscheinen nach und nach eine ganze Reihe von Leuten, die bei dem parallel offscreen stattfindenden Modeanlass eine Rolle spielen, auf und neben der Bühne, Beteiligte wie Fachfremde. Da sind das Model, der Modeschöpfer, die Geschäftsführerin, der Boss-vom-Ganzen, die Kritikerin, die Schneiderin, der Fotograf, der indische Eingewanderte, noch ein Model, der Praktikant etc. etc.
Das Spektrum an Figuren ist schillernd, ein Welttheater im Kleinen. Sie geben sich opak, suchen das Licht (sehenswert: Jude Law als supernarzisstischer Transvestit), sind exzentrisch, gottgleich, verkannte Künstler, cool, gönnerhaft, zynisch (Dench beißt!), ungeschminkt und katholisch, wollen unsichtbar sein, sind abgebrüht (vor Buscemi gruselt es einen mal wieder), träumen von den Sternen, derweil sie euphorisch Pizza ausfahren, sind teils sehrsehr jung und sehrsehr blass, irgendwo zwischen covergirlschön und komplett verlorener Seele.
Sie alle haben oder wollen einen Platz in diesem Theater, kennen ihre Rolle oder üben sie gerade ein, sind stolz, unsicher, unzufrieden oder darüber erhaben.
Und dann? Was passiert? Die Leute reden. Zu Michelangelo. Kommen, setzen oder stellen sich vor den Bluescreen und reden und gehen wieder. Sehen in die Kamera. Posen. Spiegeln sich in der Linse. Finden Gefallen daran, genießen ihren Auftritt, improvisieren, probieren aus und kokettieren, ignorieren souverän die Kamera, finden das Ganze lästig, geben sich natürlich, werden ernst, feierlich, pädagogisch – oder verstummen. Sehen in sich selbst hinein. 
Aber erstmal reden sie. Über sich, über andere, über das Leben im Allgemeinen und im Besonderen, wie der Hase läuft, über die Branche. Vor allem aber über sich. Ob sie reden oder schweigen – sie offenbaren sich, teils gewollt, teils ungewollt, die, wofür sie sich halten, gehalten werden wollen. Klingt nicht spannend? Abwarten. 

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Michelangelo scheint nicht der Typ zu sein, vor dem man sich geniert oder von dem man etwas befürchtet, er muss ganz im Gegenteil ziemlich harmlos, unerfahren und etwas linkisch wirken. Das läßt sich jedenfalls aus dem Gebaren und den Bemerkungen besonders der erfolgreichen Männer schließen, allesamt gaaanz tolle Typen, Hauptdarsteller in ihrem eigenen Drehbuch. Sie benehmen sich ihm gegenüber vergleichsweise so wie früher die Aristokratie gegenüber ihren Bediensteten. Der andere ist Luft, ein Gegenüber, das man an-, ab- und wegstellen kann. Keine Person. Jemand, vor dem man so ziemlich alles tun würde, denn er gehören einer anderen Kaste an. Michelangelo ist genau so einer. Nicht mal seine Stimme hört man. Er sieht nur zu und wartet. Unbewegt, geduldig, beharrlich läuft die Kamera.
Der Film ist in sieben Kapitel unterteilt, einen für jeden Drehtag, eine unaufgeregte Struktur, die bis zuletzt eingehalten wird. Die Überschriften der einzelnen Kapitel werden von unsicherer Hand getippt, was vorgeblich Michelangelos Dilettantismus unter Beweis stellen soll, aber auch kleine Spannungsbogen schafft. Nach einer Weile fragt man sich, wo die Storyline bleibt, worauf es hinauslaufen wird, wenn man dranbleibt. Und dann passiert etwas. Zwei Dinge. Erstens: der Bluescreen ändert die Farben, was, so simpel es ist, eine tolle Wirkung hat. Zweitens: Der Tod und das Drama halten Einzug. Aber eben nicht vor der Kamera, sondern im Off.

Aus der Plattform für Selbstdarsteller entwickelt sich eine Mischung aus BotenberichtTeichoskopie und Stresstest. Mit dem Einbrechen des Unvorhergesehenen verlieren die Figuren die Fassung, die eingeübte Form, werden panisch, verzweifeln, manche bleiben abgeklärt, andere fangen an zu glänzen, zu leuchten. Neue Figuren kommen hinzu. Und unwillkürlich ist man gefesselt von der Veränderung, die vor sich geht. Wird Zeuge einer vermeintlich unvorhergesehenen Entwicklung, ist gespannt, wie die Charaktere damit umgehen, entwickelt eine Beziehung zu ihnen, die eben noch wie austauschbare Nummerngirls schienen, fragt sich, was als nächstes passiert.



Sally Potter geht es um die Bauchnabelschau, den alltäglichen Nahkampf und das hohle Elend der Modebranche, wie es bereits Robert Altman mit Prêt-à-Porter (1994) getan hat oder Duncan Ward in Boogie-Woogie mit der Kunsthandelszene (meine Rezension dazu kann man hier lesen). Reizvoll an Potters Psychostudie ist die Form. Die Tarnung als Low-Budget-Interviewdoku, die Reduktion auf einen einzigen Schauplatz und auf die Selbstgespräche von rund einem Dutzend Gestalten. Vor dem Bluescreen entspannt sich ein Reigen der Eitelkeiten und der Selbstbeweihräucherung. Menschliches, Allzumenschliches. So viel Gesicht, so viel Entlarvung ist selten in 90 Minuten zu sehen.

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