Samstag, 19. Januar 2013

Törleß und die Kälte

Was mich bei der erneuten Lektüre von Musils Erstling erschreckte: wie vergangen das gerade noch Erlebte für Törleß ist, als er sich am Schluss von Basini abwendet. Wie wenig er sich selbst darüber wundert, obwohl ihm das ebenso ungewollt geschieht wie es sein Gegenüber in Verzweiflung stürzt. Wie gleichgültig er diese Wandlung hinnimmt, egal, was er damit beim anderen auslöst. Gerade wie man beim ersten morgendlichen Blick nach draußen die Wetterlage registriert: 

»Als Törleß im Bette lag, fühlte er: ein Abschluß. Etwas ist vorbei.« (174) 

Basini war immerhin das Opfer von Törleß' seelengräberischen Verhören und der erste, mit dem Törleß eine erotische Beziehung verband. Aber bei der ersten Begegnung nach diesem ›Abschluss‹ begegnet Törleß Basini wie einem Fremden, vollkommen ungerührt und desinteressiert.

»Aber du warst doch vor kurzem noch so lieb zu mir.«
»Niemals.«
»Aber ….«
»Schweig davon. Das war nicht ich …. Ein Traum …. Eine Laune …. Es ist mir sogar recht, daß deine neue Schande dich von mir fortgerissen hat …. Es ist gut so für mich ….« 
Basini ließ den Kopf sinken. Er fühlte, daß ein Meer von grauer, nüchterner Enttäuschung sich zwischen ihn und Törleß geschoben hatte …. Törleß war kalt, ein anderer.« (175)

Die sadistischen Grausamkeiten, die Törleß und seine beiden Mitstreiter Beineberg und Reiting dem zarten Gewächs Basini antun, gelten offiziell als das Skandalöse an diesem Roman, eine etwas exzentrische Form dessen, was man heute vielleicht unter Mobbing einordnen würde. Die Angstlust, die beide Seiten dabei empfinden, verleiht in meinen Augen dem ganzen allerdings etwas Pubertäres, Spielerisches, Experimentelles. Als das eigentlich Skandalöse empfinde ich vielmehr die komplett egoistische, bewusstseinslose Metamorphose eines im Grunde feinfühligen Individuums. Und die Kälte, mit der dieser sie registriert und kundtut. Eben gleichgültig wie das Wetter. Das gemeinsam Erlebte und Gefühlte gilt vom einen Moment auf den anderen nichts mehr, schlimmer noch, es wird geleugnet. Wo bleibt sein eigenes Entsetzen über diese Erkenntnis? 
Mir scheint das die viel gängigere Form seelischer Gewalt.

Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. (erstmals 1906) Rowohlt, Hamburg 2012. 200 Seiten.

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