Freitag, 26. April 2013

Der omnipräsente Wille zur Macht


»Die Hackordnung war prächtig ausgebildet. Könige und Fußvolk. Arbeitsbienen, die den Nektar umrühren. In keiner anderen Altersgruppe war die Hierarchie so streng. Ein Aufsteigen zwischen den Rängen so gut wie unmöglich. Einmal Außenseiter, immer Opfer. Und Einpeitscher fanden sich immer. Haareziehen. Ausgedrückte Hagebutten in den Kragen. Auflauern auf dem Nachhauseweg. Geklaute Turnbeutel. Kloppe auf dem Klo. Hose runter. Futter für das Wir-Gefühl.«

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe (2011). Suhrkamp, Berlin 2011. S. 96.

Was mich fasziniert: Innerhalb weniger Jahre oder gar in ein- und demselben Lebensmoment kann jemand einerseits zu denjenigen gehören, die andere auf die so beschriebene Weise quälen, um das eigene Ego zu füttern, um anderen zu gefallen, um jemandem wehzutun, oder aus Angst, nicht dazuzugehören. Und andererseits sich darüber empören, dass im Leben da draußen so vielen Menschen Ungerechtigkeiten widerfahren, dass es Waffenhandel, Diktatur und Folter gibt. Dass es Vergewaltigung gibt, Kindsmord, Rassismus, Hitler.

Dass so viele Menschen denken, außerhalb der eigenen Biographie oder dem eigenen Wirkungskreis müssten auf unerklärliche Weise andere Regeln herrschen als man sie selbst erfährt oder erfahren hat.  Egal ob das jetzt aus unreflektierter Naivität geschieht, aus Denkfaulheit oder kindlichem Pfingstwunderglaube: Man muss kein Pessimist sein, um davon auszugehen, dass das Schlimmste im Menschen überall, zu jeder Zeit und in jedem Alter ausbrechen kann. Unter Kindern und Jugendlichen geschieht es eben sehr offen, weil gerade Schulklassen ein – vermeintlich – geschützter Raum mit internen Regeln sind, zu denen die Menschenrechte weniger vordringen als in das Partisanengebiet von, sagen wir, Mali. Das nackte Grauen.

To be continued...


Angaben:
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Suhrkamp. Berlin 2011. 222 Seiten.

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