Mittwoch, 24. April 2013

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe (2011)


Biologischer Stammtisch mit Schmackes und Köpfchen

Wie mag eine 50-jährige Biologielehrerin über das Leben, die menschliche Spezies, die Schule denken? Judith Schalansky gibt bei ihrem zweiten Roman als Antwort eine schallende Ohrfeige, deren Klang nachhallt. Herausgekommen ist ein außergewöhnliches und lesenswertes Buch.

Die Welt aus der Sicht einer biologischen Deterministin. Inge Lohmark bewundert die Vielfalt und Zweckmäßigkeit organischen Lebens, aber sie verachtet den Menschen, und ganz besonders ihre Schüler. Hartnäckig, verbittert und ganz im autoritären Stil lehrt sie seit dreißig Jahren Biologie und Sport an einem Gymnasium in der ehemaligen ›Zone‹. »Das Leben war kein Kampf, es war eine Bürde«  (S. 199), die Realität »eine unbarmherzige Abfolge von überraschenden Ereignissen« (S. 104). So weit die Prämisse des Romans. Lasst fahren alle Hoffnung. 

Sie selbst überrascht nichts mehr. Wie viele Narben das Leben und der Schuldienst bei ihr hinterlassen haben, zeigt der mephistophelische Spott in Lohmarks resp. Schalanskys Tonfall, eine sehr verführerische Weise der Weltbeschreibung, klug, unterhaltsam und bitterböse. Die immer wiederkehrenden Beschreibungen der Unterrichtssituation und ihrer Schüler und Schülerinnen zeugen von Nüchternheit und einem analytischen Verständnis, atmen zugleich aber den Geist einer komplett desillusionierten Seele, die Typologien bestechen durch ihre Schärfe und ihren Witz: »Ganz vorn ein verschrecktes Pfarrerskind, das mit Holzengeln, Wachsflecken und Blockflötenunterricht aufgewachsen war. In der letzten Reihe saßen zwei aufgedonnerte Gören. Die eine kaute Kaugummi, die andere war besessen von ihrem schwarzen Hengsthaar, das sie pausenlos glättete und strähnchenweise untersuchte. Daneben ein hellblonder Knirps in Grundschulgröße. Ein Trauerspiel, wie die Natur hier die ungleiche Entwicklung der Geschlechter vorführte. Rechts außen kippelte ein Herrentierchen mit offenem Mund, das nur darauf wartete, mit einer ordinären Bemerkung das Revier zu markieren. Fehlte nur noch, dass er sich auf die Brust trommelte.« (18) – »Es gab keine Überraschungen. Nur die Besetzung wechselte.« (19) – »Jennifer. Blondiertes Haar. Strichmund. Frühreif. Von Geburt an selbstsüchtig. Keine Aussicht auf Besserung. Skrupellose Oberweite, Wettbewerbsbusen.« – »Annika. Brauner Zopf, langweiliges Gesicht. Überambitioniert. Freudlos und bienenfleißig. Vortragsgeil. Klassensprecherin seit der Geburt. Anstrengend.« – »Kevin. Unsauber, aber aufschneiderisch. Löchriger Oberlippenflaum. Stupide, aber fordernd – die schlimmste Kombination. Nur durch kontinuierliches Füttern ruhigzustellen. Süchtig nach einer Bezugsperson. Mäßig gestört. Ein Nervbolzen.« (20f.) etc. etc.

***

Liebe? Bezugspersonen? Mit ihrem zweiten Ehemann Wolfgang verbindet Inge vor allem, dass sie nicht mehr miteinander kommunizieren und er tierlieb ist. Er züchtet eine Straußenart. Strauße stecken bekanntlich gerne den Kopf in den Sand, welch ein Zufall. Tochter Claudia lebt im fernen Amerika. Angeblich hat sie vor zu heiraten. Ein fremdes Leben, der Kontakt ist abgebrochen, daran wird kräftig genagt. Und es wird aus Leibeskräften verdrängt. Was zählt schon das Privatleben, wenn man die meiste Zeit an der Arbeitsstelle verbringt? Auf zynisch klingt das folgendermaßen: »Man konnte sich seine Kinder [nicht] aussuchen. Nur austragen. Blutsverwandtschaft verpflichtete zu nichts. Auf die Rücksicht der Gene war kein Verlass.« (114)

Wenn der Kontrollverlust sogar die eigene Brut betrifft, bleibt nur noch das Schulzimmer. Herr sein, wo man Herr sein kann: Am Charles-Darwin-Gymnasium genießt Inge Lohmark den Ruf einer kompromisslosen Zuchtmeisterin. Das geschieht aus einer trotzigen Form von Sendungsbewusstsein, Vorbereitung auf ein hartes Leben, das Leben ist kein Ponyhof etc., aber wohl auch als Selbstschutz. »Fünfundvierzig Minuten konnten sehr lang sein. […] Das Allerwichtigste war, gleich zu Beginn streng zu sein. […] Hart sein. […] Keine Lieblinge. Unberechenbar bleiben. Schüler waren natürliche Feinde. Die Untersten im schulischen Wirkgefüge.» (S. 202) Zwar weiß sie viel, und viel Wissenswertes, wie man als Leser gerne zugibt. Nur interessiert das kaum jemanden außer sie selbst. Dass ihre Bemühungen etwas bewirken, diesen Gauben hat sie schon lange verloren. Perlen vor die Säue, das alte Lied. Ausnahmen bestätigen lediglich die Regel: »Nein, diese Kinder hier kamen ihr wirklich nicht vor wie Diamanten auf der Krone der Evolution.« 

Ihre Kollegen sind entweder seelisch kaputt, naiv (wie die von ihr leidenschaftlich verachtete Kollegin Kunstlehrerin) oder sie hängen sozialistischen Welt- und Traumbildern nach. Die Schule wird die Türen schließen müssen, denn die Schülerzahlen schrumpfen unter das Mindestmaß. Was zu Beginn bereits feststeht, wird sich am Ende der 222 Seiten nicht geändert haben. Stillstand der Handlung. Hier gibt es keinen dynamischen Plot, hier findet keine Entwicklung statt, hier geht es um eine Bestandesaufnahme: Erstens die einer Frau im fortgeschrittenen Zustand der Resignation, zweitens die einer Institution – Verallgemeinerungen scheinen erlaubt –, drittens die einer bestimmten Region, womöglich breiteren Landstrichen, als man es wissen will, vorsichtig gesagt: die sich entvölkernde ostdeutsche Provinz.

***

Die drei Teile des Romans heißen ›Naturhaushalte‹, ›Vererbungsvorgänge‹ und ›Entwicklungslehre‹ – in der Kopfzeile jeder linken Buchseite finden sie sich wieder. In der Kopfzeile jeder rechten Buchseite steht jeweils ein Stichwort zum Thema, um das es gerade geht: Anthropogenese, Fortpflanzungsstrategien, Adrenalinausschüttung, Mutanten etc.. Ein Biologiebuch? Rund zwanzig eingestreute, teilweise doppelseitige Abbildungen von Pflanzen, Tieren, Ein- oder Mehrzellern verstärken den Eindruck, dass es hier nur vordergründig um individuelle Figuren und Entwicklungen geht. Zwar findet sich die Nähe des Menschen zu den Tieren als Motiv in unzähligen Romanen – hier wird das aber zum Erzählprinzip gemacht, und zwar je mehr, je länger der Roman dauert. Selten wurde einem die wenig schmeichelhafte Nähe des homo sapiens zu selbst den geringsten Tiergattungen so deutlich vor Augen geführt, zum Beispiel wenn es darum geht, eine schriftliche Lernkontrolle zu begründen: »Sie trafen sich hier ja nicht zum Vergnügen, zum reinen Zeitvertreib. Hier wurde Leistung verlangt. Wie überall. Eine unangekündigte Kurzkontrolle war noch das Lebensnaheste, was die Schule zu bieten hatte. […] Tief im Inneren waren sie glücklich, endlich einmal gefordert zu werden. Alle Tiere wollten dominiert werden. Sie machten da keine Ausnahme. […] Der Leistungswille lag nun mal in der Natur des Menschen. Und den Naturgesetzen war nicht zu entkommen.« (104f.)

Wie durch ein umgekehrtes Fernglas blicken wir mit den Augen der Hauptfigur auf das Treiben unserer Artgenossen, die als ausführende Organe vorgegebener Muster durch die Landschaft geweht werden. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Es ist wie in einer Tierdoku. Man erfährt Distanz, ist neugierig, lacht und staunt amüsiert, und zwischendurch fröstelt einen: das sind ja wir.

Dabei löst die Gattungsbezeichnung des Bildungsromans, prominent auf dem Titelblatt, zunächst ganz andere Assoziationen aus: sie suggeriert klassischerweise, dass man Zeuge davon wird, wie ein junger Mensch durch einen Zugewinn von Erfahrung und Erkenntnis eine geistige Entwicklung hin zu einem Zustand der Reife zurücklegt. Die Schale des Eis zerhackt, aus dem er (oder sie) geschlüpft ist, und sich in einen Zustand der Mündigkeit und Eigenverantwortlichkeit bildet, kämpft, lebt und liebt. Flausen werden ihm ausgetrieben, damit er zu sich kommt, seine Herkunft hinter sich lässt und das Heft seines Lebens in die Hand nimmt. Es geht in der Regel um eine positive Entwicklung oder um eine, an deren Ende ein als positiv zu wertender Zustand der Mündigkeit steht.

***

Schule als sinnstiftender Hort der Bildung und die Jugend als Bienenstock der Lebendigkeit und Neugier? Von wegen.  Schalansky spielt nur mit dem Begriff und seinem Halo. Die Schule als Ort der Vermittlung von Grundlagen zur Individuation und zum mündigen Menschen wird vorgeführt. Die Bildung, um die es in ›Der Hals der Giraffe‹ geht, ist vor allem diejenige, die vergeblich versucht, die Biologie in ihrem unwiderstehlichen wie banalen Drang nach territorialer Behauptung und Artvermehrung aufzuhalten, so weit, so simpel. Schwarze Pädagogik, Burn-Out, Überlebenskampf. »Erster Mensch mit vier Buchstaben? – Affe.« (S. 167) 

Freier Wille, good-bye. Klingt eindimensional? Zugegeben – es birgt gewisse Nachteile, dass sowohl kleinere wie größere Spannungsbögen fehlen, so etwa nach ca. 150 Seiten beginnt man sie zu vermissen, doch der Blick durch die sehr abgedunkelte Brille der Inge Lohmark hat etwas Bestechendes. In punkto Negativität kann es Schalansky mit Bernhard, Jelinek oder Houellebecq aufnehmen. ›Der Hals der Giraffe besticht durch seine Negativität. Darüber hinaus lernt man viel über die Verwandtschaft der Arten und über entsprechende Grundkenntnisse aus dem Lehrplan des Fachs Biologie.

Angaben:
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Suhrkamp. Berlin 2011. 222 Seiten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen