Mittwoch, 24. April 2013

Quelques heures de printemps (F 2011)



Regie: Stéphane Brizés
Darsteller: Vincent Lindon, Hélėne Vincent

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Drama der Sprachlosigkeit

»Reden ist Silber und Schweigen ist Gold.« So lautet eine jener vermeintlich klugen Volksweisheiten, die in all ihrer Falschheit bei gleichzeitigem Anspruch universeller Gültigkeit so dämlich sind, dass ich sie bereits als Kind intuitiv ablehnte – noch bevor ich mir der Konsequenzen bewusst war, die so eine eine Haltung mit sich bringen kann. Wer denkt sich so etwas aus?

Dieser sehr ruhige, schön fotografierte und geduldige Film setzt sich unter anderem mit den fatalen Folgen der Sprachlosigkeit auseinander, genauer: der Unfähigkeit, sich mitzuteilen. Alain (Vincent Lindon) ist aus Geldnot gezwungen, nach einer anderthalbjährigen Haftzeit wieder bei seiner Mutter zu wohnen. Yvette (Hélène Vincent ) hat ihn in 18 Monaten lediglich zweimal besucht – sie kümmert sich um ihn mit der Pflichtschuldigkeit einer Mutter, die mit dem Sohn ansonsten nichts mehr zu tun haben will. 

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Schon bald gärt es zwischen den beiden. Sie hat sich ans Alleinleben gewöhnt, Puzzle und TV ersetzen ihr jeden Kontakt zu Mitmenschen, eine Lebensform irgendwo zwischen anspruchsloser Selbstgenügsamkeit, Resignation und Autismus. Alain leidet unter der Demütigung, nicht selbständig leben zu können und abhängig zu sein von der Gunst seiner Mutter und den Jobs, die ihm die Arbeitsvermittlung anbieten. Zwei längere Einstellungen zeigen ihn, wie er am Fließband der Müllsortierung steht – mit zwei Handbewegungen ist sein Jobprofil erschöpfend beschrieben. Wie lange hält das ein Mensch aus, ohne daran zu verzweifeln? 

Dann lernt er eine schöne Frau kennen, sie verbringen eine Liebesnacht miteinander, am Morgen danach will sie mit ihm plaudern. Doch seine Scham ist zu groß, er will, nein, er kann nicht darüber reden, wie er lebt und wo er arbeitet. Er möchte ein anderer sein. Selten hat ein Film derart offen und fast ohne Worte die Schwierigkeiten gezeigt, welche das gängige Rollenbild an einen Mann heranträgt, der sich nicht zu helfen weiß: man schämt sich mit ihm, man möchte ihm aus seiner Scham heraushelfen, man wünscht ihm, dass er sich von dem Klischee befreit, das ihn lähmt. 

Doch das Drehbuch kümmert sich nicht allzu sehr um Alains Schwierigkeiten, mit seiner neuen Lebenssituation zurechtzukommen. In der Hauptsache geht es um ein anderes Thema, eines, neben dem alle anderen Themen verblassen. Wie trete ich von der Welt ab, wenn ich es nicht dem Schicksal überlasse?

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Leblos wie eine Mumie sitzt Yvette an ihrem Tisch. Klein, ein hutzeliges Weiblein, dabei noch agil, und sehr adrett. Sie könnte nochmals erblühen, denn sie hat etwas Apartes an sich. Ein befreundeter Nachbar wirbt zaghaft um sie, auch er ein Witwer. Doch Yvette lässt ihn nicht an sich ran. Sie lässt überhaupt niemanden an sich ran. Auch und schon gar nicht ihren Sohn. Wunschlos unglücklich, um es mit Peter Handke zu sagen. 

Ab und an sieht man sie beim Arzt, zuerst beim Röntgen, dann bei der Bestrahlung. Es stellt sich heraus: sie leidet an Krebs, irreparabel, unheilbar. Redet sie darüber? Natürlich nicht. Eines Tages entdeckt Alain Formulare zur Sterbehilfe, ausgefüllt von seiner Mutter. Er stellt sie zur Rede und sie erklärt ihm ganz ruhig und geduldig, dass für sie nur ein selbständiges und weitgehend unabhängiges Leben ohne Schmerzen in Frage kommt. Heim, Fürsorge, palliative Medizin – no way.

Man versteht, dass diese Frau sich auf niemanden verlassen kann und will. Und man fragt sich, wie der offensichtlich schockierte Sohn reagieren wird, der komplett mit sich und seiner Lebenssituation beschäftigt ist. Zumal er gerade ausgezogen ist und nun beim Nachbar wohnt, weil er die stillen Vorwürfe seiner Mutter, nichts aus sich gemacht zu haben, nicht mehr ertragen konnte. 

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Diese beiden Menschen, die sich im Grunde die nächsten sind, wie man so salopp sagt, sind von A bis Z mit der Situation überfordert. In dieser Art von Familien-GAU geht es nicht mehr vor- und nicht mehr rückwärts. Das erzählt der Film auf eine sehr geduldige und unspektakuläre Weise, ohne die klassischen Mittel des Melodrams zu bemühen. Was man dem Film hoch anrechnen muss angesichts der Möglichkeiten, die sich anböten, auf die Tränendrüse zu drücken.

Besonders bemerkenswert finde ich das Spiel von Vincent Lindon und die Entscheidung des Drehbuchs, ihm keine Verwandlung anzudichten. Er springt nicht über seinen Schatten, weil er es nicht kann. So einfach, so ergreifend. Und er spielt das atemberaubend zurückhaltend, indem er in kritischen Situationen einfach nichts tut. Sein Schweigen bei den Gesprächen seiner Mutter mit den behandelnden Ärzten und Sterbehelfern. Alain weiß nicht was sagen. Und sagt – nichts. So krass.

Fazit: Großartiges Schauspielerkino aus Frankreich. Erste Sahne. Unbedingt ansehen. 

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