Mittwoch, 17. April 2013

Wolfgang Herrndorf: Tschick (2010)


Alles ist ein erstes Mal

Eine inspirierende Bühnenfassung an einem Aprilabend 2013 veranlasste mich, den Roman drei Jahre nach seinem Erscheinen aus dem Regal zu holen, wo er nach einem ersten erfolglosen Anlauf gelandet war, und innert eines Tages zu lesen. Zwei Jungs der Bühne ›Junges Theater Basel‹ hatten mich im Verbund mit an die hundert Autoreifen auf einer ansonsten leeren Bühne derart gut unterhalten und neugierig gemacht, dass ich die Vorlage an der Umsetzung messen wollte.

Zwei Vierzehnjährige wagen die große Flatter und riechen den Duft der Freiheit, wie er nur beim ersten Mal riechen kann. Dinge, die mit den Eltern jeglichen Erlebnischarakters entbehren, werden zur sinnlichen Erfahrung und gewinnen an Tiefe und Bedeutung. Autofahren ohne Erwachsene, die offene Landschaft, die sich vor ihnen ausbreitet, der Arm ausm Fenster bei voller Fahrt, die Sterne über dem Himmel, das Grillengezirpe, die selber gepflückten Brombeeren. Das alles war immer schon da, aber irgendwie auch nicht oder nur in schwarzweiß oder 2D. Jetzt knallt es und lebt, jetzt ist es ausschließlich für sie da – es ist gerade so, als würde man Zeuge davon, wie Blinde sehen lernen.

Bevor es losgeht und bevor alles anders werden kann, werden erstmal die Ausgangslage und der Alltag beschrieben, damit die Differenz danach erst richtig fühlbar wird. Wie in etlichen anderen Romanen rund um Adoleszenz und Schule geht es auch hier um das Überleben in einem Kampf jeder-gegen-jeden zwischen Gleichaltrigen, Lehrern und Eltern. Der Protagonist sieht sich als Wesen, das von zwei einander bekriegenden Menschen in die Welt geworfen wurde, die seit jeher mit sich selbst beschäftigt scheinen, und er selbst ist derart der Bedeutungslosigkeit preisgegeben, dass es nicht mal zu einem Spitznamen reicht und er selbst bei Höchstleistungen keinerlei Aufmerksamkeit erhält, weil – ja weil der Coolnessfaktor einfach nicht stimmt. Andere brauchen bloß zu sein, schon sind sie in aller Munde. Er aber ist die Luft, durch die man durchsieht.
Die Frustration angesichts der so undurchsichtigen wie nicht zu beeinflussenden Verteilung von Sichtbarkeit und Sexiness in den Augen der Mitmenschen hält sich dabei in Grenzen, sie wird so schafsmäßig hingenommen wie der Umstand, dass es nachts dunkel wird. Aufregung hilft nicht weiter. Das Leben ein graues Band vor ihm. Immerhin gibt es eine Oase in der Wüste, und sie hat einen weiblichen Vornamen. Tatjana ist die Fotowand, die seinen inneren Sehnsuchtsraum belebt, dabei eine Frau ohne Eigenschaften, wie später Tschick formulieren wird. Also eine schiere Projektionsfigur, ähnlich wie Emil Sinclairs Beatrice aus Hesses Demian. Sie sonnt sich darin, von allen heiß begehrt zu werden, und darin erschöpft sich auch ihr Sein. Das wäre ein Grund, sie gründlich zu ignorieren, doch natürlich ist es genau umgekehrt: Je hohler das Idol, desto besser lässt es sich beleuchten, je fader, desto Projektion.
Um so besser, tritt Tschick in sein Leben. Ein Glücksfall. Tschick ist der Asi mit den Mongolenaugen, der Außenseiter, der sich in der Not zum Maß aller Dinge macht. Flucht nach vorn. Weil der zugewanderte nobody nicht zu verlieren hat, ist er davon befreit, es irgendwem recht machen zu müssen, da das nichts an seinem Verliererstatus ändern würde, im Gegenteil. Also klaut er am zweiten Tag der Sommerferien einen Lada, holt den traurigen, unerhörten Tatjana-Fan zuhause ab und zwingt ihn zu seinem – zu beider– Glück.
Weg, weg, abhau’n, weg! So lautet die Parole, und weil der Führerschein noch mindestens vier Jahre entfernt ist, geht es über Feldwege und wenig frequentierte Nebenstraßen vage Richtung Süden, wobei schon bald der Zufall bei den Kreuzungen entscheidet, in welche Richtung es weitergeht. Im Grunde ist das nämlich egal, solange das Hier-und-Jetzt so aufregend ist.
Sagte ich aufregend? Na ja, aufregend für die beiden Jungs, die Stationen lauten Supermarkt, Tankstelle, Müllhalde, Krankenhaus. Bei der Müllhalde begegnet ihnen ein Mädchen namens Isa, das eine Zeitlang mitfährt – lange genug, dass sie Tatjana unwichtig werden lässt. So schnell kann das gehen. Vor allem aber geht es darum, wie die Beteiligten sich die Welt, ihr Selbstverständnis und ihre Beziehung zueinander erreden, das was sie füreinander sind. Nix metaebene, alles noch indirekt, aber dennoch mittenrein ins Herz.

Jedes Gespräch wird vom Schein der Oberflächlichkeit begleitet, der Jargon ist betont cool und derb, und doch geht es immer ums Ganze. Wer bin ich? Was ist mir die Welt? was bist du mir? Gesprächsfetzen werden tiefer empfunden als der Andreasgraben. In jedem Witz verbirgt sich eine potenzielle Selbstoffenbarung. Alles ist ein erstes Mal.

Hier erobern sich zwei Lausbuben die Welt ganz alleine für sich und man sieht und hört ihnen gerne dabei zu, denn zum einen ergänzen sie sich sehr gut, der Dreiste mit Geheimnis und der Brave mit den Selbstzweifeln. Zum andern gibt man sich gerne dem frischen Erzählerjargon hin, der den pubertären Weltbeschreibungen und Selbstbildern und vor allem den knackigen Dialogen den nötigen Witz verleiht. Nach ca. 150 Seiten allerdings erschöpft sich die Wirkung etwas und es ist gut, dass der Roman nach der Heimkehr und als Abschluss noch einen Knaller zu bieten hat, der nachhallt.

Was bleibt, ist das Gefühl, gut unterhalten worden zu sein und eine Reise in die eigene Jugend unternommen zu haben. Nicht jeder hat mit 14 eine Spritztour gemacht, doch manchem ist so ein Tschick durch die Biografie gelaufen, der einem mit seinem Geradeaussein die Brille geraderückt und die eigene Höhle aufhellt. Die Form bestimmt den Inhalt. Was in der eigenen Jugend als durchaus düster und dramatisch erlebt wurde, wird hier dank der komödiantischen Grundhelligkeit in ein milderes Licht getaucht. Dem Roman aber seine dramatischen Seiten abgewinnen zu wollen, würde bedeuten, seine Form zu ignorieren und ihm seine Stärke zu rauben. Hernsdorf ist kein Wedekind, auch wenn er teilweise die identischen Themen behandelt.

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