Sonntag, 5. Mai 2013

360 (GB/Ö/F/Br. 2011)


Regie: Fernando Meirelles
Darsteller: Rachel Weisz, Jude Law, Anthony Hopkins etc.

Sieh dich um. Lauf. Entscheide dich. Bleib nicht stehen.

ein Episodenfilm um Entscheidungen in der Liebe


Wenn ich ein gläubiger Muslim bin und mich in eine verheiratete Frau verliebe. Aber so richtig verliebe. Ach was, wenn ich nur noch an sie denke und an nichts anderes mehr: darf ich dann gegen die heiligen Gesetze verstoßen und einen Schritt auf sie zugehen? Den einen entscheidenden Schritt? Darf ich das? – Keine leichte Frage. Dilemma. Du möchtest irgendwie nicht tauschen mit dem Mann. Kann dir aber morgen passieren, auch wenn du weder Mann noch Muslim noch gläubig bist und keine verheiratete Frau liebst etc. Die Zutaten sind immer andere, doch die Fragen gleichen sich.


360‹ ist schöner, sorgfältig gemachter Film um die Kontingenz, dem Zufall, dem wir alle ausgesetzt sind, und um unsere Aufgabe, diesem zu begegnen, indem wir Entscheidungen treffen. Indem wir Weichen, an die wir gekommen sind, als solche erkennen und uns für einen Weg entscheiden, ohne im vornherein wissen zu wollen, ob er der richtige oder der falsche ist. Denn richtig oder falsch können beide Wege sein. Insofern ist es einerlei, aber: just do it. und zwar all the way. Wenn sich dir eine Gelegenheit bietet, ergreif sie, denn vielleicht bietet sie sich nie mehr. Und manchmal bist du bereits auf dem richtigen Weg, aber dein Blick schweift so sehr umher, dass du die Sicherheit verlierst.


Das mag jetzt esoterisch klingen oder nach Paolo Coelho riechen, aber keine Sorge: der Film ist nichts davon. 360‹ ist fein gemachter, kitschfrei, schön erzählt, anregend. Aufgezeigt werden die eingangs genannten Themen anhand von beginnenden, kriselnden oder endenden Liebesbeziehungen. 360‹  erzählt von der Versuchung, vom Flirt, der käuflichen Liebe, von heimlicher Sehnsucht, der schnellen Nummer, der Magie der ersten Begegnung, dem letzten Eindruck, dem Betrug, der Lieblosigkeit, der vergeblichen Liebe und – ein Sonderfall innerhalb des Films – von der Liebe eines Vaters zu seiner verschwundenen Tochter.

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Er spielt an ganz verschiedenen Orten, erzählt von Frauen und Männern aus der Slowakei, Brasilien, England und Russland, Frankreich, Österreich und USA. Sie sind Zahnarztgehilfin, Ganove, Art Director, arbeitslos, Rentner, Fotograf, Studentin, Autohändler. Sie gehen fremd, fürchten ihre Triebe, fühlen sich alleine oder genießen ihre Freiheit, kaufen sich Liebe, suchen ihre Tochter, verkaufen ihren Körper oder entdecken sich gerade selbst neu.

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»Die Liebe kommt – die Liebe geht«, sangen die Comedian Harmonists (hier eine Soloversion mit Klavier) vor 80 Jahren. Das ist so weit nichts Neues aus diesem – ja, aus was denn – aus diesem Ding, diesem vagen Universum, das uns Menschen umtreibt, solange wir Leben im Leib haben und sofern wir uns einlassen. Dem entsprechend kommen ja auch die meisten Geschichten, die wir uns ansehen oder die wir lesen, nicht ohne love story aus, egal ob sie im Weltraum spielen oder im Dritten Reich, im antiken Rom, der Industriezone von Guangzhou oder im im umkämpften Grenzgebiet Palästinas.


Mit der Liebe in Erzählungen ist es ein wenig wie mit Langstreckenflügen: Der Start und die Landung sind das Bewegendste, da nimmt man die physikalischen Kräfte wahr, hat allenfalls ein wenig erhöhten Puls oder fühlt eine gewisse Erhabenheit. Die endlosen Stunden in der Luft bieten vergleichsweise wenige Höhepunkte (je nach Catering und Flugklasse). Aber wie die Liebe kommt, und wie sie geht, wie sie bestehen bleibt und Widerständen trotzt, welche Formen sie annimmt und wie sie uns immer wieder überraschen kann – das lassen wir uns gerne immer wieder erzählen. ›360‹ erzählt mehrere dieser Starts und Landeanflüge aufs Mal, ein Episodenfilm. 


Ich gebe zu: ich habe eine Schwäche für dieses Genre, ob jetzt in der Literatur (siehe der letzte Abschnitt meiner Rezension zu einem Roman von Sibylle Berg) oder im Film (siehe meine Rezension zu Boogie Woogie). Einzwei Handvoll Figuren, deren Lebenswege einander zugeweht werden, die sich kreuzen, oft nur für einen Moment. Neu ist diese Form der Collage nicht, Robert Altman hat mit ihr in den Neunzigern in ›Short Cuts‹ oder ›Prêt-à-porter‹ großes Kino gemacht. Einen Aufschwung erlebt hat das Genre vor rund zehn Jahren durch die Erfolge von Filmen wie 21 grams von Alejandro González Iňárritu, Richard Curtis' Komödie Love actually‹ oder Paul Haggis' oskarprämierten ›Crash‹

Die Filme dieser Gattung sind verblüffend oft einfach sehr gut gemacht, was womöglich daran liegen könnte, dass sie sich an die kleine Form halten und damit der Kurzgeschichte verwandt sind. In der Collage voneinander unabhängiger Geschichten verteilt sich das dramaturgische Gewicht auf mehrere Schauplätze und Geschichten, was die Spannungsbögen vervielfacht. Auf Nebenhandlungen wird verzichtet, weil nur Hauptsachen erzählt werden, man bekommt Einblick in ausgewählte Ausschnitte verschiedener Leben ohne Vergangenheit oder Zukunft, einzelne Situationen, die durch die Konzentration auf wenige Momente an Schärfe gewinnen.

Mir gefällt die Beiläufigkeit, mit der Meirelles erzählt, wie hier grenzüberschreitend Figuren angeschnitten werden, wie unabsehbar die meisten Geschichten verlaufen, wie fein die Figuren gezeichnet und wie unterschiedlich die Milieus sind, ohne dass es wie ein aufgezwunger Querschnitt (von allem etwas)  wirkt. Und mir gefällt die Offenheit, mit der die Geschichten an ein vorläufiges Ende geführt werden. ›360‹ ist intelligent, und und auch wenn nicht alle Episoden freudvoll sind, versprüht der Film Charme und eine unaufdringliche Leichtigkeit.

Fazit? Na ja, ein Versuch in einem Satz: Du bist andauernd von 360 Grad Horizont umgeben, vergiss  das nicht, nimm das wahr, und sieh dich ruhig um, ohne Angst, aber ab und zu musst du irgendwie auf die 0 (null) Grad deines Weges kommen. Lauf. Bleib nicht stehen.


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