Montag, 5. August 2013

Textauszüge zu Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten (2013)


Bildquelle


zur Rezension geht es hier

Textauszug 1
Themen: Quartiervergleich im Berliner Osten;
Freiheit und Marktwirtschaft; Gentrifizierung
Ich gehe in die Linienstraße hinein. Eng und ruhig, ahmt sie den Verlauf der lauten Torstraße nach. Die im Krieg entstandenen Lücken sind sorgfältig mit DDR-Plattenbauten gefüllt, die einst begehrt waren und heute verachtet sind. In den verstaubten Waben leben heute jene Berliner, die mit ihrer Stadt nicht mehr Schritt halten können, da ihre Füße immer noch in der Vergangenheit hängen. Die Männer tragen je nach Saison ein weißes Unterhemd oder eine Pelzmütze, die Frauen ärmellose Arbeitskittel aus einem synthetischen Stoff, ätzend blau mit kleinen roten Blümchen. Sie sitzen tagelang auf ihren Balkons zwischen Geranien und Zwergen und rauchen. Dann nehmen sie ihre geräderten Taschen und laufen zu Aldi die unendliche Torstraße entlang. Sie haben viel Zeit und bleiben öfter vor den geschmückten Schaufenstern stehen, so wie auch ich: Latexwäsche, Sexspielzeuge, tätowierte Waden, gepiercte Brustwarzen, Proteinnahrung in Bottichen, Nail Studios … Was machen wir mit unserem Wohlstand und unserer Freiheit?
Nördlich der Torstraße aber liegt ein Land, wo alles stimmt: Prenzlauer Berg. Die Spitze des Berges bewohnen die anmutigen Menschen, die aus ihrem Wohlstand und ihrer Freiheit ein erstklassiges Glück melken. Sie brauchen sich nicht die Nabel und Brustwarzen zu durchbohren, um sich zu behaupten. Sie bremsen ihre geräuschlosen Porsches vor Fußgängern und Fahrradfahrern und gefallen sich dabei sehr. Sie kaufen in Bioläden ein und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie wieder mal vor dem tristen Winter nach Teneriffa fliehen. Laut Legende schreien sie sich gegenseitig nie an und siezen ihre Putzfrauen und Babysitterinnen. 
Zweiter Teil, Kapitel 3

Textauszug 2
Thema: Vorstellungen vom Westen
Die Lebensweise der Europäer war uns weniger vertraut als die der Marsbewohner, über deren Sitten uns sowjetische Unterhaltungsbücher bestens informierten. Wir sehnten uns nach dem unfassbaren Westen und waren sehr neugierig darauf. In Russland repräsentierten die Deutschen das wahre Abendland, sie waren unsere eigenen Fremden. Die anderen Europäer waren uns zu abstrakt. Die Deutschen aber schienen zum Greifen nah zu sein und auch so anders als wir: fleißig, nüchtern, sachlich, wie Herr Seitz.
Zweiter Teil, Kapitel 2


Textauszug 3
Thema: Verhältnis zur eigenen Vergangenheit im Sozialismus
Wir beide haben einen Großteil unseres Lebens unter roten Fahnen verbracht, unsere Sensoren und Antennen bleiben wohl für immer nach links gekippt, selbst wenn wir uns ehrlich bemühen, sie aufrecht und in der Mitte zu halten. Wir sind halt Ossis, und wie viele andere Ossis auch müssen wir uns mit der schizophrenen Zwiespältigkeit der Erinnerung tragen: Der Verstand weiß Bescheid, die Seele aber zweifelt und will nicht glauben, dass all die Erfahrungen der untergegangenen Zivilisation nutzlos und lächerlich waren. Wir vermissen nicht das damalige Leben, sondern den Zeitgeist, mit dem man Adam Smith, den Wohlstand und den Komfort verachtete und auf eine vage und helle Zukunft schwor. Wir selbst spotten gerne über diesen naiven Glauben oder über die Realien des sozialistischen Lebens, ärgern uns aber, wenn die Leute aus dem Westen das tun. Für sie war das Leben hinter dem eisernen Vorhang entweder verbrecherisch, miserabel oder anekdotisch ulkig. Für uns ist es im Rückblick auch so, aber es war unser Leben, und nicht ihres.
Erster Teil, Kapitel 5


Textauszüge 4 und 5

Thema: Integration, Unterschiede zwischen den Generationen
In meinem siebzehnten Lebensjahr fühlte ich mich meiner Mutter endgültig und verzweifelt überlegen. Meine Tochter hatte dieses Gefühl schon als Grundschulkind, wie es in vielen Migrantenfamilien der Fall ist, wo die Eltern in der Kommunikation mit der Umwelt oft auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen sind: Liebe Frau Flügel, meine Tochter Marina hat heute Termin bei einem Arzt um 12 Uhr. – Einen Termin, den Termin?, quälte ich mich über dem Papierblatt, während die kleine Marina neben mir stand und ihre Augen gen Himmel rollte: Einen Termin! Und hier schreibst du bitte etwa so: Sie wird um 11 Uhr abgeholt und ich bitte dies zu entschuldigen. Und Datum. Sie riss mir das Blatt aus der Hand, las es und schob es mir unter die Nase: Abgeholt – zusammengeschrieben!
Gehorsam zog ich eine dünne wackelige Brücke zwischen Ab und geholt. Gut gemacht!, sagte sie und streichelte meine Schulter. Sie war meinen Schwächen gegenüber immer nachsichtig, unsere Beziehung kollidierte schon damals mit dem üblichen gesellschaftlichen Axiom Eltern haften für ihre Kinder.
Erster Teil, Kapitel 6


Es gab Zeiten in meinem Berliner Leben, wo ich die Russen mied. Am Anfang nimmt sich jeder Ausgewanderte vor, so schnell wie möglich deutsch zu werden, zu wirken, zu ticken. Ein mit tückischen Stolpersteinen übersäter Weg: Der deutsche Humor ist unverständlich, die deutschen Heringe sind ungenießbar und die hiesigen Sitten und Feste undurchschaubar. Wer sind die Heiligen Drei Könige und was ist eine Himmelfahrt? Wer auf der Welt soll all die bemalten Herzen vertilgen? Was bedeutet Advent und was hat er mit Shopping zu tun? Natürlich gibt es sehr viele Russen, die diese Hürden genommen haben und in beiden Sprachen feiern, scherzen und fluchen können. Noch mehr aber haben es aufgegeben. Zu Weihnachten fliegen sie nach Mallorca, und den festlichen Tisch decken sie dann zu Silvester. Zum Frauentag und am 9. Mai versammeln sie sich zum Picknick im Treptow-Park, nicht weit von der Sowjetischen Siegessäule.
Das, was ich früher als aufgeklärter Mensch westlicher Prägung mied, bringt mir neuerdings viel unerwartete Freude: die alkoholhaltigen Cocktails, deren Farben an die Versuche eines wahnsinnigen Alchemisten erinnern; nahrhafte, von Mayonnaise überflutete Salate; die polyphonen Gespräche, wo keiner dem anderen zuhört. In seiner Rede unterbrochen, folgt man nicht dem Gedanken seines Gegenübers, sondern lauert auf eine Gelegenheit, seine Partie fortsetzen zu können.
Wir essen Salami auf Brot und reden über Trennkost. Wir lästern über allgegenwärtige deutsche Geschmacksverstärker, das verworrene deutsche Schulsystem, zickige deutsche Nachbarn, saure deutsche Heringe, aber da, wo die Heringe salzig sind und Halwa süß ist, wollen wir eigentlich nicht hin. Haben wir dafür Tausende Kilometer zurückgelegt? Um vor uns hinräuspernd in der Küche zu sitzen und von verlassenen und vergangenen Orten zu schwärmen? Unsere lichten Träume haben wir auf den Schultern  unserer Kinder abgelegt, und mit uns kann es nur bergab gehen, langsam, aber unaufhaltsam. Und wir haben nichts, was diesen Abstieg aufhalten könnte: Die Krallen sind abgeschabt, die welken Flügelansätze baumeln hinter den Schultern, ulkig klein bei dem immer schwerer werdenden Körper. Den Schwimmkurs schiebe ich immer noch vor mir her, bis Marina, von meiner Trägheit genervt, für mich einen Termin zum Einzelunterricht in einem Bad ausmacht.
Fünfter Teil, Kapitel 2



Textauszug 6
Thema: Albtraum (die Protagonistin ist Nichtschwimmerin)
Ich stehe auf, um mir warme Socken zu holen, und meine Füße treten ins kalte Wasser, das mir schon bis zu den Knöcheln reicht. Die Wasseroberfläche reflektiert das hektische Wimmeln am Bildschirm und schimmert rot. Im Korridor steht das rote Wasser Kubik schon bis zu den Nasenlöchern, ich packe ihn unter den Beinen. Der Hof ist auch überflutet, die Straße wird zu einem Fluss. Ich krieche das steile Ufer hoch, schaue zurück und sehe die ganze Stadt auf viele Meter hohen Wellen schweben, brennende, entwurzelte Häuser färben die Fluten rot. Die schwarze Erde bröselt unter meinen Füßen ab, wird langsam zu Schlamm, der meine Füße einsaugt. Ich will nach Hause, zum Alexanderplatz, kann aber nicht mehr laufen, ich bin zu müde. Ich lasse Kubik los, der verzweifelte Hund planscht im schwarzen Wasser und kratzt an meinen Waden. Als wir dann abstürzen, bin ich, vor Angst und Schreck erschöpft, fast erleichtert.
Vierter Teil, Kapitel 5


Textauszug 7
Thema: Beziehung zwischen Lena und Herrn Seitz
Unsere Zweisamkeit lässt sich schwer einordnen, unsere Freundschaft hat vage Konturen, wie aufeinandergestapelte Dias: Samariterin und Verwundeter, Vater und Tochter, Deutscher und Russin, Siegerin und Besiegter – zwischen uns liegen Welten, Jahrzehnte, Flüsse, Gräber, Meilen, und die Seilbrücke über diesen Abgrund ist gespannt wie eine Saite, die seltsame und nur für uns wahrnehmbare Töne hervorbringt.
Dritter Teil, Kapitel 4

Textauszug 8
Themen: Ankunft im Gelobten Land, Hoffnungen, Pläne, Träume
Wir landeten in Spandau, am Rande von Berlin, in einem Asyl, wo wir zwei Zimmer in einer kommunalen Wohnung zugewiesen bekommen hatten. Die Bewohner der anderen Zimmer, mit denen wir die Küche und das Bad teilten, wechselten andauernd. Es waren ausschließlich sehr laute Südländer, goldhäutige Menschen mit beringten Händen, deren Nachbarschaft uns lästig und peinlich war. Wir hielten uns für viel westlicher als sie, daher fühlten wir uns ihnen überlegen und waren eifersüchtig auf unsere neue Heimat, die in Beziehungsdingen so anspruchslos war. Wir mieden auch die anderen Asylanten, selbst unsere Landsleute, als ob wir uns der Häutung vor ihren Augen schämten.
Bei jeder Gelegenheit fuhren wir in die Stadt, weg aus dem Heim, in die bunt geschminkte Welt, wo in den Hauseingängen unterwürfige Lichter schimmern, wo die Haustreppen wie mit duftenden Shampoos gewaschen scheinen, wo sich alle lieben und respektieren, wo gepflegte Kinder unter liebevollen Blicken der smarten Eltern an wunderschönen Legowelten basteln, während Omas mit hölzernen Löffeln leckere Gerichte zaubern. Merkwürdig, aber wahr: Es war das beste Jahr in unserem gemeinsamen Leben.
Von den freudigen Erwartungen wie Luftballons aufgeblasen, schwebten wir hoch im Wagen der grünen U1. Wir schauten auf die Stadt, die uns zu Füßen lag, und weideten unsere Seelen an den schönen, sich abwechselnden Traumbildern: Marina mit einem schicken rosa Tornister in einer gemütlichen deutschen Schule, Schura vor einer Staffelei oder gar in einem Studio, ich als Übersetzerin, nein, als Journalistin – so eine strenge, mit einem Kugelschreiber in der Hand und mit einer dicken Brille. Oder wir sahen uns als ein Unternehmerpaar: Kein Restaurant und keinen Imbiss, wie sie die banalen Migranten sonst haben, nein, wir würden ein Kino aufmachen, ein Kunstkino mit einem schönen Buffet, gemütlich, mit Plüschbänken und Sesseln, wo sich das erlesene Publikum mit Getränken in der Hand nach dem Film Salon-Debatten liefert. Ich war fest davon überzeugt, dass wir einer wundersamen Wiedergeburt nahe wären.
Dritter Teil, Kapitel 4


Rechte: 
Abdruck der Textauszüge auf meinem Blog 
mit freundlicher Genehmigung des Verlags Jung und Jung.


Angaben:
Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten. 
Jung und Jung, Berlin 2013. 336 Seiten.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen