Freitag, 18. Juli 2014

Jenny Erpenbeck: Wörterbuch (2005)

Kindheit, phantastisch, verstörend, verschlüsselt

»Meine Eltern haben viel Platz. Bei mir ist das anders. Der Kopf, den ich bewohne, war schon immer von fremden Träumen möbliert, kommt mir vor. Da falle ich von Zeit zu Zeit hin oder laufe gegen irgendwas oder klemme mich ein. Vater und Mutter.« (46)
Wörterbuch erzählt von einer Kindheit in Argentinien, an deren Ausgang sich mehrere Geheimnisse lüften, Geheimnisse von derjenigen Sorte, die ein ganzes bisheriges Leben in Frage stellen. Das Ausmaß läßt sich schon beim ersten Satz erahnen. Es ist ein kryptischer, ein schöner, und man wird ihn erst verstehen, wenn man diesen beeindruckenden Roman fast zu Ende gelesen hat:
»Wozu sind denn meine Augen da, wenn sie sehen, aber nichts sehen? Wozu meine Ohren, wenn sie hören, aber nichts hören? Wozu all das Fremde in meinem Kopf?« (9)
Das Wiedereintauchen in die kindliche Wahrnehmung ist stets ein befremdlicher Gang in die eigene vergangene Natur. Bilder, Gefühle, Gegenstände, Atmosphären, Gerüche, vertraute und fremde Gesichter, einzelne Situationen, wiederkehrende Sätze, Leitmotive, viel Fremdheit, viele Fragen, die ohne Antwort bleiben, das Gefühl, nicht verstanden zu werden, dadurch letztlich Isolation und Ausgeliefertheit. Die Welt eine Abfolge von Folien, wie bei einer Powerpointpräsentation, nur sitzt man selber nicht am Drücker, weder in der Zeit des Erlebens noch wenn man sich zurückbesinnt. 

Eine der Besonderheiten von Wörterbuch liegt darin, dass Erpenbeck der alogischen, bildhaften Wahrnehmung eines Kindes folgt und bis zuletzt treu bleibt, wenn das Kind gar keines mehr ist. So unterscheidet sich der Roman im erzählerischen Ansatz und Anspruch, im psychologischen Potenzial und der sprachlichen Verdichtung. Zwar wird vorwiegend chronologisch erzählt, doch die nur bedingt vermittelnde Perspektive des erlebenden Kindes ist assoziativ und sprunghaft. Beiläufiges und Wesentliches vermischt sich nach unbekannten Regeln.

Mutter, Vater, Haus, Sonne, Milch, trinken sind Schlüsselwörter auf den ersten Seiten, so weit so verständlich. Dann folgt die erste Sequenz von Halbsätzen, die sich dem Kind einprägen und wiederkehren werden.
»Diejenigen welche, dann deren Freunde, dann die, die sich an sie erinnern, später alle, die Angst haben, und zum Schluß alle.« (13)
Die Bedeutung dieser Formel liegt in ihrer Wiederholung und in den benachbarten Absätzen. Da ist der weiße Palast, in dem der Vater arbeitet und für Ordnung sorgt, so lautet die Wendung. Er leuchtet so hell und weiß, dass sich das Kind überlegt, die Fenster müssten wohl zugemauert sein, wodurch sich das Sonnenlicht nicht in den Innenräumen verliert und um so strahlender scheint. Die kindliche Intuition trügt nicht, wie sich herausstellen wird.

***

Eine wichtige Person ist die Amme. Von ihren Brüsten hat das Mädchen getrunken und sie erzählt ihm auch von der Difunta Correa, der Legende einer Heiligen, die in der Wüste verdurstet, während der Säugling dank der Muttermilch überlebt. Immer wieder kommt das Kind auf diese Figur zurück und will alles mögliche dazu wissen. Kinderfragen, die einem unschuldigen tieferen Interesse an dieser Legende entspringen. 

Kinderfragen sind ja oft unbestechliche Zweifel an der Natürlichkeit des Seins. Manches will man einfach nicht hinnehmen, gerade wenn es einem die Erwachsenen nicht befriedigend erklären können. So darf man gewisse schmutzige Worte nicht sagen bzw. aus dem Körper entlassen, was für das Kind bedeutet, dass man denn Innenraum mit schmutzigem Gedachtem belastet. Dabei ist die Kapazität des Innenraums durch die vielen Sinneseindrücke eh schon überlastet:
»[…] wenigstens kommt das, was ich esse, unten wieder heraus, nur das, was ich in die Augen hineintue, wo geht das hin, soll das alles in meinen Kopf hineinpassen, selbst wenn ich das stapeln würde wie unsere Aufwartefrau die Wäsche, zusammenfalten und übereinanderlegen, hätte das keinen Platz, glaube ich, deshalb sage ich, was ich sehe, denn dann macht das in meinem Kopf eine Kurve und geht durch den Mund wieder hinaus. Scheiße, sage ich, als ich später sehe, was aus dem Kuchen geworden ist.« (25)
Ein Teil des Kinderelends besteht darin, dass man sich mit vielen halbgaren Erklärungen abspeisen lassen muss, die man zu recht als verdecktes Unwissen empfindet. Bei anderem muss man sich zusammenreimen, was einem alles kolportiert wird – zum Beispiel was Schnee ist, wenn man ihn noch nie gesehen hat. Das Wort kennt sie, doch die Großmutter ist tatsächlich die einzige in der Familie, die schon mal Schnee gesehen hat, was der Sache eine ungeheure Magie verleiht. Und weil die sagt, Schnee mache die Welt so still, malt sich das Kind aus, wie sich ein Abendessen im Schnee ausmachen würde:
»Wenn jetzt Schnee fiele, würde auf einmal die ganze Familie still. Weiß, weich und reglos, wie der Fisch, den wir essen.« (30)
Wer so schön schräg und verquer in die Welt blickt, findet alles mögliche sonderbar, zum Beispiel wieso Eisenbahnfahren plötzlich verboten ist. Ob die Großmutter mit ihren Glasknochen irgendwann in tausend Teile zerspringt. Oder der Vater behaupten kann, es werde im Leben der Amme alles wieder gut, wenn sie doch schon so alt ist und ohne Mann lebt. Auch die Merkwürdigkeiten der sozialistischen Schulalltags werden spektisch kommentiert:
»Zur Pause geht einer nach dem anderen zur Tür des Klassenzimmers hinaus, in einer Reihe, hübsch langsam, sagen die Lehrer. Eins. Zwei. Und drei. Alle schnellen Bewegungen, alles Plötzliche und alles, was schief ist, das Rennen, Schlenkern, Schieben, Lehnen und Fallen, Herumwirbeln und Springen wird von uns abgeschnitten, irgendwohin gebracht, wo es für uns nicht mehr erreichbar ist, und dort verschrottet. Wie Fahrräder, wenn sie ausrangiert sind, verkeilt sich das dort ineinander, macht einen unentwirrbaren Haufen, verhakt sich, und verrottet schließlich gemeinsam, als wäre es immer schon eins gewesen. Eins.« (19) 
Was für ein melancholisches Bild: das Ungestüme und Lebendige der Kindheit wird von Staats wegen wie ein Haufen alter Fahrräder verschrottet. Heraus kommt der stromlinienförmige weiterverwendbare Bürger. Was ausformuliert etwas kitischig und platt daherkommt, bekommt durch die spezifische Bildhaftigkeit etwas Mythisches, das einen betroffen macht. Und die darüberschwebende Trauer prägt den Roman bei aller Heiterkeit, die manche Passagen auslösen. Man ahnt schon die ganze Zeit. Da kommt noch was nach.

Und am Ende will man wieder von vorne beginnen. Schon lange hat mich ein Roman nicht mehr so fasziniert und berührt. 

Jenny Erpenbeck: Wörterbuch. btb Verlag. München 2007 (Erstausgabe 2005). 110 Seiten.

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