Samstag, 21. Februar 2015

Der Liebhaber (L'Amant, 1984) von Marguerite Duras


Schöne, rätselhafte Liebe in traurigen Tropen
»Die Küsse auf dem Körper bringen mich zum Weinen. Man könnte glauben, sie haben etwas Tröstliches. […] Ich weine. Er legt seinen Kopf auf mich, und er weint, weil er mich weinen sieht. Ich sage ihm, daß in meiner Kindheit das Unglück meiner Mutter den Platz des Traums eingenommen habe.« (77) 

Indochina, 1930. Eine junge Französin, ein Mädchen von knapp 16 Jahren, entdeckt ihr sexuelles Begehren mit einem zwölf Jahre älteren chinesischen Mann, der sie auf einer Fähre auf dem Schulweg anspricht. Über ein Jahr trifft sich das ungleiche Paar, heimlich zwar, doch eigentlich im Mitwissen sämtlicher Verwandten. Die Affäre endet damit, dass sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern nach rund fünfzehn Jahren Leben in der Kolonie nach Frankreich zurückkehren.

Dennoch ist die Erzählung keine eigentliche Liebesgeschichte, und zwar aus mehreren Gründen nicht. Die Liebesbeziehung ist derart ausschließlich vom Begehren getrieben, vom blinden Verlangen des Mannes nach dem »Kind« und der erwachenden Lust des Mädchens, die sich nach Wiederholung der beglückenden Erfahrung körperlicher Liebe so sehr verzehrt, dass die Person des Mannes, der sie ihr bereitet, dahinter verschwindet. Dazu trägt bei, dass Ihre Gespräche, die mit der Zeit immer weniger wurden, die Zukunft ihrer Beziehung bewusst aussparten:
»[…] also reden wir nicht über die Zukunft, wir führen gleichsam journalistische Gespräche, teils von gegensätzlichen Positionen aus, teils übereinstimmend.« (82)

Über den Inhalt dieser Gespräche erfährt man kein Wort. So bereitwillig man das zur Kenntnis nimmt, so opak bleibt diese Verbindung in der Darstellung der Ich-Erzählerin – die zwischendurch immer wieder ins «sie» wechselt, gerade so, als spiele sie mit der Möglichkeit, dass dieses Mädchen, das sie war, eine Fremde ist.
Der Chinese jedenfalls erscheint bis zuletzt als ein Fremder, ein Fremdkörper, auch wenn nach und nach wiederholt seine Zärtlichkeit beschrieben wird, seine zarte Haut und die Kraftlosigkeit seines Körpers, die auf das Mädchen eine sie selber befremdende anziehende Wirkung ausüben.
Das mag daran liegen, dass seine Leidenschaft für ihren noch unfertigen Körper sie vor ein Rätsel stellt. Schließlich hat sie gerade erst damit begonnen, sich mit einem Männerhut und kreischendem Lippenrot zu verkleiden, um damenhaft zu wirken, die Mutter spricht über sie als »dieses Etwas […] dieses noch unbestimmte Ding« (153). Hinzu kommt ihr Bewusstsein um die doppelte Zukunftslosigkeit dieser Mésalliance: Schon früh raubt die viel jüngere dem verzweifelt Liebenden eiskalt jede Illusion einer dauerhaften Verbindung. Gleichzeitig sprechen viele Stellen dafür, dass sie ihm verfallen ist. Dass es sich um Liebe gehandelt haben könnte, überlegt sie sich erst viele Jahre später.

Die Offenheit, was das Motiv dieser Verbindung betrifft, macht die Erzählung natürlich reizvoll. Dennoch scheint mir etwas anderes im Zentrum der Erzählung zu stehen. Duras erzählt vom erwachenden Bewusstsein einer jungen Frau, die sich mit einem nicht selbstgewählten Leben in der sozialen und kulturellen Isolation zurechtfinden und ihren Platz in der von außen und innen gefährdeten Familie suchen muss. Vor allem die komplizierte Beziehung zur Mutter nimmt viel Raum ein. Deren Liebe ist ungleich verteilt, sie gilt den beiden Söhnen und vor allem dem älteren. Diese Ungerechtigkeit macht dem Mädchen zu schaffen, zumal sie den jüngeren Bruder so sehr liebt, wie sie den älteren Bruder verachtet, der sehr dominant auftritt, ohne eine Vorbildfunktion einnehmen zu können. Schon früh wird deutlich, dass er die Liebe der Mutter im Grunde nicht verdient, und es wird vorweggenommen, dass er sie bis an ihrer beider Lebensende ausnützen wird.

Der frühe Tod des Vaters und der Verlust von beträchtlichen Summen von Geld hat die Familie an den Rand der Armut gebracht, ein Schicksal, das so gut es geht verdrängt wird, so will es die Familienräson:
»[…] wir hatten als erstes gelernt, über das Wesentliche unseres Lebens, das Elend, zu schweigen.« (101)
Die Mutter kann mit ihrem Lehrerinnengehalt kaum die laufenden Kosten decken. Sie sieht sich zu einem Pragmatismus gezwungen, der vor dem Schicksal der einzigen Tochter nicht halt macht. So ist es ihr gar nicht unrecht, dass sich die Minderjährige von dem fremden Mann aushalten lässt, sich einen kostspieligen Diamantring schenken lässt. Sie lässt es sich gefallen, dass er die ganze Familie regelmäßig ausführt, in kostspielige Restaurants. Grotesk und niederträchtig daran ist, dass man ihm diese noble Geste nicht dankt, sowohl die Mutter wie die Brüder verweigern ihm jedes Gespräch, und zwar aus schierem Instinkt.
Der Undank der verarmten ehemals Besitzenden ist haarsträubend, er erzählt von einer großen Scham und von der Dreistigkeit deren, die einen schier unbezahlbaren Schatz als den ihren wissen: die schöne Schwester resp. Tochter. Mit ihrer Schönheit lässt sich von dem wohlhabenden Fremden alles Geld erpressen, sie erlaubt es sogar, ihn zu demütigen, gerade so, als müsse er dankbar sein, dass sie sich dazu herablassen, sich von ihm einladen zu lassen.
Gleichzeitig wird dem Mädchen, die ihnen mit seiner Liaison solche Inseln des Wohlstands überhaupt erst ermöglicht, der Vorwurf gemacht, still oder explizit, dass sie sich freiwillig an einen Chinesen verschachere und sich damit den Ruf ruiniere, sich die Zukunft verbaue. Das treibt einen weiteren Keil in die Familie. Indem sie ihren eigenwilligen Weg weitergeht, gewinnt die Minderjährige an Autonomie und Selbstbewusstsein. Schon früh ahnt sie, wie mühelos sie sich später von Mutter und Brüdern trennen wird.

***

Das Nebeneinander von Radikalität und Offenheit ist das eine, was mir an der Erzählung besonders gefällt. Tod, Liebe, Begehren, Hass reichen sich hier die Hand, oft unvermittelt werden Widersprüchlichkeiten formuliert, ob es nun um die Liebesbeziehung oder um die Gefühle der Mutter für die Kinder und umgekehrt geht. Das wird bestärkt furch eine enigmatische Sprache, die Befindlichkeiten und Wahrnehmungen auf eine Weise darstellen, dass ihre Wirkung den beschriebenen Gegenstand leuchten lassen, ohne alles klären zu wollen. Dazu abschließend ihre Beschreibung einer schon lange verstorbenen jüdischen Emigrantin in Paris, an die sich erinnert:
»Betty Fernandez. Die Erinnerung an Männer taucht nie in jener strahlenden Helle auf, die die Erinnerung an Frauen begleitet. Betty Fernandez. Auch sie eine Ausländerin. Kaum ist der Name ausgesprochen, ist sie da, sie geht auf einer Straße in Paris, sie blinzelt, um deutlich zu sehen, sie grüßt mit leichtem Händedruck. […] Sie geht immer auf einer Straße über die Geschichte all dieser Dinge hinweg, so schrecklich sie auch seien. Auch ihre Augen sind hell. Das rosa Kleid ist alt, und staubig das schwarze Käppchen im Sonnenlicht der Straße. Sie ist schmal, hochgewachsen, wie mit Tusche gezeichnet, ein Stich. […] Ihr Kopf, ihr Körper ist so beschaffen, daß jedes Ding, das mit ihr in Berührung kommt, sogleich und unfehlbar an ihrer Schönheit teilhat.« (111ff.)
Mir wird beim Schreiben klar wie sonst kaum einmal, dass ich mit diesem Roman noch nicht fertig bin, dass ich ihn nochmals lesen werde. Vermutlich mit ganz anderen Augen.


Angaben:
Marguerite Duras: Der Liebhaber 
Aus dem Französischen von Ilma Rakusa (L’Amant, 1984)
suhrkamp taschenbuch 1629
Frankfurt a.M. 2013 (19. Auflage)
194 Seiten

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen