Samstag, 31. Oktober 2015

Dave Eggers: The Circle (2013)

Die Transparenzmaschine

»We all know we die. We all know the world is too big for us to be significant. So all we have is the hope of being seen, or heard, even for a moment.« (490) 

Wo E-Hippies und Nerds sich Gute Nacht sagen 

Supertransparente Architektur, Geräte nur vom feinsten, gepflegte junge Körper im Gewand trendiger Avantgarde, smarte Umgangsformen und Euphorie, wohin man sieht.
Das Gelände und die Räumlichkeiten der Internetfirma, die sich The Circle nennt, atmen den Turnschuh tragenden Geist von you can do it im Quadrat. Hier arbeiten ausschließlich progressive und findige Youngsters, die an die endlose Optimierung des Selbst und der virtuellen Gesellschaft glauben. Sie sind willens, ihr gesamtes geistiges Potenzial in die Waagschale zu werfen, um am Entwurf einer Welt mitzuarbeiten, die sich im Galopp verändert, sprich: verbessert.
Wer älter als dreißig ist, fällt auf.

Mae Holland ist Anfang zwanzig und ganz geblendet von so viel sprühender Zuversicht und sichtbarem Erfolg. Jeder Mensch, der ihr in den weitläufigen Hallen und Gängen der Firma entgegenkommt, heißt sie willkommen sie und gibt ihr das Gefühl, etwas Großem anzugehören. So viel Zukunft und Zuversicht auf einmal hat sie noch nie an einem Ort gesehen. Wo wenn nicht hier kann man sein wollen? 

Lebe vor, wofür wir stehen

Wie alle Newbies beginnt sie in der virtuellen Kundenberatung, die hier sinnigerweise ›Customer Experience‹ heißt. Sie bietet Ansporn durch ein optimiertes Feedbacksystem: Innert Sekunden erfährt die Beraterin, wie zufriedenstellend ihre Beratung vom Kunden wahrgenommen wurde. Ist die Beurteilung unter 100%, wird sofort nach dem Grund gefragt. 
Ein Belohnungssystem, das wie eine Droge wirkt, zumal die Zahlen dauernd und für alle sichtbar sind und hohe Aufmerksamkeit genießen. Ist der Durchschnitt über 95%, wird einem von überall her applaudiert, sinkt er ab, lernt man das Büro des Vorgesetzten kennen. Dann gibt's erstmal viele harmlose Fragen, einige gönnerhafte Worte und den einen oder anderen mahnenden Zeigefinger, was Einsatzbereitschaft und Systemtauglichkeit betrifft. Die Botschaft lautet: Du bist nicht allein – selbst wenn du es gerne wärst.
Beim Chef vorsprechen muss nämlich auch, wer das Intranet der Firma nicht ausreichend mit likes und Kommentaren bedient, um sich als Teil der Community zu erweisen und zu profilieren. Die Gretchenfrage, die rhetorische, lautet: Willst du denn nicht am Leben der anderen teilhaben und sie an deinem teilhaben lassen? Kannst du das vor dir selbst verantworten?

Zwischen zwei Fronten

Nach ca. 50 Seiten Lektüre zeichnet sich ab, dass nicht Mae, sondern die Firma im Zentrum steht, denn sie ist die treibende Kraft, Mae nur ihr Spielball. Der hohe Grad an sozialer Einbettung und Kontrolle – der spirit, auf den die Belegschaft eingeschworen wird – die dauernden Innovationen und Ankündigungen, die jeden Freitag in der Hall of Dreams präsentiert werden und deren Inhalt die immer hoffnungsfrohere Zukunft ist: Diese Verbindung aus Technologie und Ideologie ist die es, die den Plot vorantreibt, indem sie Mae vor immer neue Fragen und Aufgaben stellt. 

Das klingt durchsichtig, funktioniert aber erstaunlich gut, da sich parallel dazu Maes familiärer Hintergrund und ihre Geschichte entfaltet – das zweite Spannungsfeld des Romans. 

Da ist zum einen Annie, die beste Freundin aus Studienzeiten und mittlerweile in der Teppichetage der Firma angekommen. Ihr verdankt sie ihre Anstellung, und sie verkörpert das, was Mae anstrebt: eine selbstbewusste, erfolgreiche Geschäftsfrau, so elegant wie eloquent, so sexy wie busy.
Zu den Eltern, die irgendwo im Hinterland leben, pflegt Mae ein enges Verhältnis. Sie und ihr Ex, der Kunsthandwerker Mercer, repräsentieren eine Welt, die sie gerne hinter sich gelassen hat, weil sie ihr zu provinziell und analog ist. Dieser Konflikt stellt die andere Front in Maes Leben dar.
Und dann sind da noch Maes Männergeschichten. Sie sind so einfach wie intelligent konzipiert, da sie einander ergänzen und Maes Haltung gegenüber The Circle auf den Prüfstand stellen. 


Wohin geht die Reise?

Fazit: Bei aller Bestsellerdramaturgie und trotz sehr mediokrer Figurenzeichnung ist The Circle unterm Strich lesenswert. Eggers setzt an bei der wachsenden Verbreitung, Entwicklung und Bedeutung von Social Media im Leben einer stetig steigenden Zahl von Menschen und dem Wissen, wieviel Geld und Macht in diesem Geschäftsmodell steckt.
Das Netzwerk namens The Circle wächst rasch und hat viele Lösungen für real existierende Probleme parat. Und schafft dabei neue. Es kommt daher im Gewand eines Wolfs, der Kreide gefressen hat, man kann das glaubwürdig finden oder reißerisch, wer sieht schon nach vorne. Ob gesundheitliche Vorsorge, öffentliche Sicherheit oder selbstauferlegte Moralkontrolle: Die dystopische Entwicklung ist genretypisch grell gestaltet, wirkt verkürzt, ein Highway to Hell. Für manche sicherlich ein Grund, das Buch ärgerlich zur Seite zur Seite zu legen.
Andererseits: wer kennt einen Zukunftsroman aus dem letzten Jahrhundert, der Internet, Google und Instagram vorausgesehen hat? Irgendwann mal musste ja ein Buch erscheinen, das Orwells Erbe antritt, den über 70 Jahre alten Klassiker, dessen internetlose Welt so zur Gestrigkeit verdonnert ist.

Am interessantesten fand ich abgesehen von den genannten Zukunftsvisionen die Anregung zur Frage, wieviel Transparenz wir selbst anstreben und in Kauf nehmen, um wahrgenommen zu werden und uns am Leben fühlen – und wieviel Zeit wir dafür aufwenden wollen und können. Der Roman, in dem diese Frage im Zentrum steht, muss erst noch geschrieben werden. Weder die opportunistische weibliche Hauptfigur noch der arg missionarisch daherkommende kulturpessimistische Figur des Mercer kann diesem Anspruch nicht genügen.


Angaben:
Dave Eggers: The Circle (Erstausgabe 2013)
First Vintage-Open-Market-Edition.
Random House LLC, New York 2014.
500 Seiten

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